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Ronald Keusch

Nichts Gefährliches, nichts Scharfes oder "Der Wolf, das Lamm - Hurz"

Über das neue Pollesch Stück "Melissa kriegt alles" im Deutschen Theater Berlin

Sage niemand, es gebe keine Entwicklung auf den deutschen Theaterbühnen. Nachdem seit vielen Jahren Regisseure an Theaterstücke von ehrwürdigen Bühnendichtern dermaßen Hand anlegten, dass ungeübte Theatergänger glaubten, ein anderes Stück zu sehen, gehen besonders profilierte Regisseure seit längerem noch einen Schritt weiter. Sie schreiben einfach selbst Stücke und nutzen dann auch ausgiebig die Gelegenheit, tüchtig mit solchen Theater-Ikonen wie Helene Weigel und Bertolt Brecht oder mit dem legendären Londoner Theater ordentlich ins Gericht zu gehen. Die Rede ist von René Pollesch und seinem neuen Stück "Melissa kriegt alles" im Deutschen Theater Berlin.


Beim abendlichen Besuch im Deutschen Theaterabend zu Coronazeiten wird dem Zuschauer noch ein Prolog geboten. Dazu muss er früher am Theater eintreffen und den Wunsch haben Open Air, an einem der langen Tische vor dem Theater, ein Glas Wein zu trinken. Das Theaterrestaurant geleitet ihn mit Hinweisschildern einige Stufen hinab zum ersten Desinfektions-Spot, dann führt der Weg weiter ein Stück durch das leere Restaurant zu einem Durchgang und man steht plötzlich an einem Küchentrakt in einer kleinen Schlange mit Abstand. Sicherlich angeordnet durch die Hygienepolizei in Kriegs-Corona-Zeiten. Man beobachtet den Koch, der Essen aufwärmt und eine Servierkraft, die in der Küche steht und die bestellten Gläser füllt. Bezahlung cash auf die Hand, dann gibt es zwei Gläser in die Hand. Der Weg führt raus aus der Küche, wieder vorbei an den Desinfektionsmitteln-Tresen und dann nach draußen an einen Tisch. Bevor man am Tisch das Glas hebt, unbedingt den Mundschutz abnehmen.


Vor dem Besuch des Theaterstücks schaute ich auf die Veröffentlichungen zu jüngsten Pollesch Aufführungen. Neben dem Chor der Lobpreisungen im deutschen Feuilleton stieß ich auf eine Rezension, die aus der Reihe fiel. Ein wagemutiger Theaterkritiker aus dem Mainstream? Die Kritik stammt von Derek Scally, einem irischen Journalisten, Autor in der Irish Times vom 20.11.2019, den immerhin ein mutiger Redakteur in der Zeit online veröffentlicht hat. Die Rezension betraf das Theaterstück von Pollesch "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt", aufgeführt im Berliner Friedrichstadt-Palast im November letzten Jahres. Es war eine äußerst kritische Wertung nicht in erster Linie des Stückes, sondern generell der Auffassung von Pollesch über das Theaterspiel. Nun, Verrisse lesen und verkaufen sich blendend, was man nicht erst seit dem Literarischen Quartett mit Marcel Reich-Ranicki weiß. Können diese harten Urteile im Jahr 2020 über den im deutschsprachigen Raum hoch und viel dekorierten Theatermann Pollesch wirklich zutreffen? Nachdem ich das Stück "Melissa kriegt alles" gesehen habe, kann meine Antwort nur lauten: Ja, sehr zutreffend !

Scally: Theatermacher (wie Pollesch) haben es (es sind fast immer Männer) geschafft, "ein Krümmungsfeld um ihre Bühnen herum zu errichten, das Oberflächlichkeit tiefgründig erscheinen lässt. " Oder: "Was ich zu sehen bekam, war dieselbe unausgegorene Kapitalismuskritik, die mir seit 20 Jahren von deutschen Bühnen entgegenschallt. Nichts Gefährliches. Nichts Scharfes."


Es wird zur Aufführung "Melissa kriegt alles" ein handliches Programmheft verkauft, in dem einige der Monologe und Dialoge nachzulesen sind. Doch auch diese Erinnerungshilfe, um zu Hause in aller Beschaulichkeit nachzublättern, wird sicherlich wenig helfen, den eigentlichen Inhalt des Stückes zu erfassen. Die Akteure wollen eine Bank überfallen, mehrmals rufen sie nach der Zärtlichkeit im Kriegskommunismus. Ein paar Mal fallen die kompletten Seitenwände der Spielstätte, deren Tapete mit dem Hammer und Sichelmotiv geschmückt sind, mit lautem Krachen auf den Bühnenboden. Um kurz danach von Bühnenarbeitern, die diszipliniert einen Mundschutz tragen, mühsam wieder aufgerichtet und verankert werden.


Auch ohne Programm-Textbuch wird sich der aufmerksame Zuschauer an zwei der Themen der Pollesch Aufführung erinnern: das Brecht-Theater und das Theater in London. So lässt Pollesch einen Akteur auf der Bühne solche und andere Albernheiten sagen: "Brecht zielt nie auf das Publikum. Das ist der Grundirrtum."(S. 26 Programmheft) Man muss wahrlich kein Experte der Theaterwissenschaft sein, um etwas über das maßgeblich von Brecht geschaffene epische Theater zu wissen. Mit dieser neuen theatralischen und erzählerischen Form gelang es, große gesellschaftliche Konflikte wie Krieg, Revolution, soziale Ungerechtigkeit darzustellen. Weltweit ist sogar eine Renaissance von Brechtstücken zu verzeichnen, die in der Auseinandersetzung mit globaler neoliberaler Politik sogar an Aktualität gewinnen. Bestes Beispiel ist die erfolgreiche Neuverfilmung von Mackie Messer - Brechts Dreigroschenoper, mit dem das Publikum ungeheuer reich beschenkt wird, wie eine Rezensentin begeistert schrieb.


An Arroganz kaum noch zu toppen ist das Urteil von Pollesch über Theater in England und speziell über das Old Vic, das er von der Bühne verkünden lässt: "Es ist gerade die Beziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern am englischen Theater, die mich so mit Hass erfüllt. … Es ist dieser Perlen-vor-die-Säue-Blick, mit dem sie auftreten." Um noch den schäbigen Nachsatz an die Kollegen auf der Insel anzuschließen: "Und deshalb gibt es gar nichts Besseres, als dass die da auf der Insel im Moment nicht mehr spielen können." (S. 16/17). Sind das bloß die willkürlichen Behauptungen eines weiteren privilegierten Staatstheaterangestellten, der an der Hand knabbert, die ihn füttert, und dem der Mut fehlt, zuzubeißen, wie Derek Scally ironisch bemerkt ? Das Old Vic mit hoch anerkannten Aufführungen und hoch dekorierten Schauspielern erhält im Gegensatz zu Herrn Pollesch und vielen Branchenkollegen keine staatlichen Subventionen. Es gibt dort kein Sicherheitsnetz, ein Großteil des Old Vic Teams ist beurlaubt und das für die Erhaltung des Theaters notwendige Stammpersonal hat freiwillige Gehaltskürzungen für sich selbst vorgenommen. Es kämpft ums Überleben des Theaters und der Kunst. Angesichts dessen sind die launigen Sprüche Polleschs mehr als nur Arroganz, sondern pure Anmaßung. Einer der namentlich gescholtenen Schauspieler, Benedict Cumberbatch, wurde im übrigen bei seinem einzigen Auftritt im Old Vic in den "The Children’s Monologues" für seine berührende Darstellung besonders gerühmt. (https://scarlettgreen.wordpress.com/2010/11/16/the-childrens-monologues-old-vic-14-november-2010/)


An einigen Stellen der Theateraufführung kam mir der Auftritt eines großen Komödianten in den Sinn. Hape Kerkeling trug im klassischen Musik-Ambiente das Lied "Der Wolf, das Lamm - Hurz " vor, eine Satire auf inhaltsleere Kunst. Manchen Liebhabern von Märchen wäre sicherlich "Des Kaisers neue Kleider" von Hans Christian Andersen eingefallen.


Sollte man trotzdem zu dieser Aufführung ins Deutsche Theater gehen? Schon wegen der Schauspieler, die ihre Sache mit den spröden Texten gut gemacht haben und auch körperlichen Einsatz zeigen: Martin Wuttke (58) klettert mit Pelzmantel und Pelzmütze bekleidet mehrere Meter eine glatte Metallstange hoch. Ins Deutsche Theater gehen, schon wegen dem Zeitgeist, der hier exemplarisch zu beobachten ist, wie er von der Bühne herunter schwappt zum Publikum. Schon wegen dem geneigten Publikum, in Coronazeiten stark gelichtet im Parkett versammelt, das mit gefälligem Lachen an einigen wenigen Stellen dieses Stück begleitet und am Schluss lang anhaltenden Beifall spendet. Da ist der Zeitgeist par excellence zu erfahren.


Ins Deutsche Theater gehen, schon wegen dem Italiener gegenüber, dem Ristorante Cinque. Seit drei Jahren gibt es die Regelung, dass der Theaterbesucher mit seinem Ticket hier einen Prosecco frei Haus bekommt. Aber hier bei den italienischen Wirtsleuten ist man auch willkommen, ohne für eine einzelne Karte im Parkett 48 Euro zu bezahlen.

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