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  • Ronald Keusch

Karl May im Kreuzfeuer

Dr. Thomas Kramer über die Absurdität der Debatten um Karl May





Thomas Kramer: Karl May im Kreuzfeuer

Da ist dem renommierten hoch anerkannten Literaturexperten Dr. Thomas Kramer der Kragen geplatzt. Der Ausstellungskurator und Autor, der als Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Uni lehrt, hat seit Jahrzehnten auch über Karl May gearbeitet und geforscht. „Das Thema Karl May verfolgt mich klassisch seit Jahrzehnten“, bekennt Dr. Kramer. Seine letzten Arbeiten beschäftigten sich intensiv kulturhistorisch mit den Orientromanen von Karl May. Deshalb weiß Dr. Kramer, wie er spöttisch kommentiert, „Karl-May-Diskussionen überfallen den Menschen periodisch wie die Grippe. Es kommt immer wie in Wellen, beginnend schon zu seinen Lebzeiten.“

Doch im Sommer 2022 erreichte der Streit um den Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand, der vor mehr als hundert Jahren in die „ewigen Jagdgründe“ eingegangen ist, neue Gipfel. In den Gemeinden von Twitter-Aktivisten und den Zeitgeist-Verkündern in den Massenmedien kochten die Gemüter hoch und glühten die Tastaturen. Das hat der erfolgreichste deutsche Autor aller Zeiten Karl May mit über 100 Millionen verkauften Büchern nicht verdient, meint Dr. Kramer. Er hat dazu ein kleines 160 Seiten umfassenden sehr lesbares Büchlein veröffentlicht unter der Überschrift „Karl May im Kreuzfeuer“ in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig. Im von Ewald König geleiteten Korrespondenten-Cafe in Berlin stellte er es am 8. September einer Journalistenrunde vor.



Literaturwissenschaftler Dr. Thomas Kramer beim Vortrag im Korrespondenten-Cafe
Literaturwissenschaftler Dr. Thomas Kramer beim Vortrag im Korrespondenten-Cafe

Eine Invasion von Karl-May-Experten

Auslöser der gesamten Debatte im Jahr 2022 waren nicht einmal die Werke von Karl May. Der Verlag RAVENSBURGER hatte drei Begleitpublikationen zu dem Kinderfilm „Der junge Häuptling Winnetou“ aufgrund von Protesten einer Reihe von Indigenen zurückgezogen, wobei laut Dr. Kramer der „Film bis auf den Titel mit Karl May so viel zu tun hat wie eine Mozartkugel mit ‚Don Giovanni‘“. Es brauchte dann nur wenige Maus-Click, bis auch der Autor selbst ins Kreuzfeuer geriet. „Über Nacht schossen Karl-May-Spezialisten wie Pilze aus dem Boden.“ Dr. Kramer störte an der Diskussion von vermeintlichen und tatsächlichen Experten vor allem die, wie er es nennt, „Schützengraben-Mentalität“. Da hat sich der Literaturwissenschafter daran gemacht, den zahlreichen Vorwürfen wie Antisemitismus, Rassismus, koloniales Denken nachzugehen, mit viel Sachkenntnis, unaufgeregt und einer Prise Humor.

Ein sehr augenfälliges Merkmal der Diskussion besteht darin, so Dr. Kramer, dass die meisten Kritiker nur wenige oder keine Texte von Karl May gelesen. Sie hörten einiges über ihn, sie haben vielleicht einen Karl-May-Film aus den 60er Jahren gesehen oder waren einmal bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg. Einen weiteren wichtigen Punkt in der Karl May Diskussion bringt er folgendermaßen auf den Punkt: Niemand wird den Gebrüder Grimm vorwerfen, dass sie in ihren Märchen die feudalen Verhältnisse an einem mittelalterlichen Hof nicht realistisch genug darstellen. Niemand würde bei dem Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen sagen, sie sei nicht exakt wie eine Monarchin des Mittelalters dargestellt. Bei Karl May werden auch Märchenwelten gezeigt, die mit der Realität wenig zu tun haben.



Das frei erfundene „Wildwest-Märchenland“

Doch die Kritiker wollen die Belletristik als Dokumentation der Eroberung des amerikanischen Westens wahrnehmen. Das ist ein problematischer Punkt beim Umgang mit Literatur. Allein die Quellen, auf die Karl May sich besonders bei seinen Indianererzählungen stützte, wie zahlreiche Reisebeschreibungen aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, allein das waren schon Märchenwelten. So erfährt der Leser von Karl Mays Texten mehr über die Mentalität der Deutschen im 19. Jahrhundert als vielleicht über das Leben der Apachen oder Navajo. An anderer Stelle heißt es über frei erfundene Figuren in Karl Mays „Wildwest-Märchenland“: „Das hat mit der Realität …in etwa so viel zu tun wie Frau Holle mit dem Schneefall.“ (S. 104)



Mit Kolonialismus nichts am Hut

Rassismus gibt es auch in den Büchern von Karl May, räumt Dr. Kramer ein, und bringt eine Reihe von Beispielen, doch man muss das einordnen in die Zeit, in der das geschrieben wurde. Schon ein Vergleich mit anderer Literatur und Jugendbüchern des 19. Jahrhunderts, die in Kolonialländern spielen, beispielsweise den Werken des berühmten britischen Schriftstellers Rudyard Kipling, zeigt: Würde man dessen „Dschungelbuch“ oder „Kim“ auf Rassismus untersuchen, ist dort Rassismus und imperiales Denken überall zu finden. (S. 92ff.) Außerdem spielt keiner von Karl Mays Romanen in einer der deutschen Kolonien im Vergleich zu Kippling und anderen Autoren damaliger Zeit. Das Werk von Karl May wurde durch Wilhelminismus und vorherrschende deutsche Mentalität geprägt. „Mit Kolonialismus hatte er nichts am Hut.“ An prominenter Stelle zitiert Dr. Kramer gleich auf der ersten Seite des Buches Karl May in der Figur von Old Surehand Teil I im Jahr 1894 mit der Aussage: „Ich bin etwas weiter herumgekommen als Ihr und habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viel gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens!“



Wenig bekannte historische Details

Auch zu den irrwitzigen Anschuldigungen des Antisemitismus liefert Dr. Kramer eine Vielzahl von Fakten aus den Werken von Karl May und eine ganzen Reihe von Zitaten seiner literarischen Figuren und von ihm selbst. Dabei wartet der Literaturexperte mit vielen interessanten und weniger bekannten historischen Details auf. Zum Beispiel, dass Karl Liebknecht wie auch Erich Mühsam zu den Fans von Karl Mays Büchern gehörten (S. 16), dass in Nazideutschland Otto Eicke Buchtexte von Karl May umschrieb und zahlreiche Antisemitismen einfügte (S. 32) und wo die übel missbrauchte literarische Quelle der „Protokolle der Weisen von Zion“ zu verorten ist, nämlich auf 12 von insgesamt 2.000 Seiten in dem Roman „Biarritz“ des deutschen Autors Hermann Goedsche, der unter dem Pseudonym Sir John Rettcliff veröffentlichte (S.44). Es wurde aus dem Roman herausgelöst, „erschien als angebliches Originaldokument in hohen Auflagen in allen europäischen Staaten und wurde zum Auslöser von Hetze und Progromen.“

Ein eigenes Kapitel ist Karl Marx und Friedrich Engels gewidmet, die in der „New York Daily Tribune“ im Zusammenhang mit dem Krimkrieg 1853-56 das Agieren der Bankiers Stieglitz in Russland und Rothschild in Österreich-Ungarn öffentlich machten (S. 38).



Reichsprotektor Shatterhand?

In die Top Ten von absurden Aussagen über Karl May schaffte es der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer in einem Interview mit der Tageszeitung „Neues Deutschland“. Es sei kein Zufall, dass Adolf Hitler und SS-Chef Himmler große Karl-May-Fans wären. „Teile ihrer Ostbesatzungspolitik, die Vorstellung wie dort deutsche Kolonist*innen angesiedelt werden, orientiert sich an Vorstellungen von der ‚Eroberung des Wilden Westens‘, wie sie sie aus den Büchern Karl Mays entnommen haben.“ (S.51) Abgesehen davon, dass es für diese Lektürepräferenz von Himmler keinerlei Belege gibt, wird hier alles Ernstes geglaubt, dass der „Ölprinz“ oder „Winnetou III“ eine Vorlage für die grauenhafte NS-Herrschaft in besetzten Gebieten geliefert habe? Was für eine ungeheure Verharmlosung der Verbrechen Nazideutschlands! Dr. Kramer fragt erschrocken: Reichsprotektor Shatterhand? Und sein klares Resümee in einer längeren Schilderung über die Situation der Vertreibungen im damaligen Navajo-Gebiet lautet. „Karl May verurteilt diesen juristisch abgesegneten Landraub aufs Schärfste…Für ihre mörderischen Raubzüge konnte Karl May den Nazis kein Vorbild liefern.“ (S. 59)



Experten: Kennt man einen, kennt man alle

Lesenswert sind die Ausführungen des Literaturexperten über das Experten-(Un)Wesen. Bei solchen Statements, wie sie von Professor Zimmerer geäußert werden, verhalte es sich ohnehin ein wenig wie das oft gehörte Vorurteil gegenüber Karl Mays Romanen. „Kennt man einen, kennt man alle.“ Und weiter zu Zimmerer: „Seine Aussagen zu Karl May sind ein hochprozentiger Cocktail aus wahren, halbwahren und schlicht unzutreffenden Aussagen.“ (S.67) Übrigens hat Dr. Kramer dem Leser auch den Titel vom ND, der über dem Interview prangte, nicht vorenthalten: „Das ist weiße Identitätspolitik“. Zumindest die Bevölkerung hat gegen diese Absurditäten verbreitenden sogenannten Experten auf ihre Weise mit der Geldbörse abgestimmt und dem Karl-May-Verlag unerwartete Umsatzzuwächse beschert. Gut so.



Der Ausstellungskurator Dr. Thomas Kramer
Der Ausstellungskurator Dr. Thomas Kramer

Kurzer Exkurs durch Leben und Werk von Karl May

Statt eines Nachworts liefert der Autor noch einen kurzen Exkurs durch Karl Mays Leben und Werk. Wem sind schon solche Fakten des „herrlichen sächsischen Lügenbolds“ (Hermann Kant) bekannt: Der begnadete Märchenerzähler, geboren 1842 im sächsischen Ernstthal, stammt aus ärmlichsten Verhältnissen, von 14 Geschwistern überleben nur fünf die ersten Lebensjahre. Seine Familie hungert sich seine Ausbildung zum Volksschullehrer ab. Aus der blanken Not resultierende Betrügereien bringen ihn mehrere Jahre ins Zuchthaus. Nach der Entlassung heuert er 1874 bei der neugegründeten Postille „Der Beobachter an der Elbe“ an und beginnt zu schreiben, Dorfgeschichten, Humoresken, erste Kolportageromane und 1875 kreiert er mit Winnetou sein eigenes Trapper- und Indianer-Universum. „Dann beugt sich der Autor unter das Joch regelrechter Schreibtischfron; schreibt Tag und Nacht.“ (S.152) Er verfasst Reiseromane und schafft die Legenden um Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi im Orient. Und Dr. Kramer protokolliert für Karl May: „In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nehmen seine Selbstinszenierungen immer bizarrere Züge an. … Was seine Bewunderer nicht wissen: Ihr vermeintlicher Prärie- und Wüstenheros ist in Wirklichkeit noch nie über die Grenzen Mitteleuropas hinausgekommen.“ (S. 154) Auf dem Gipfel seines Ruhms holt er einige der Weltreisen nach. Der letzte Satz des Buch-Autors Dr. Kramer lautet: „Es lohnt, sein Werk neu zu entdecken.“



Einladungen leider unwahrscheinlich

Übrigens versicherte der Literaturexperte Dr. Kramer im Korrespondenten Cafe den Journalisten, die etwas irritiert auf den Namen des kleinen und wenig bekannten Verlages schauten: „Die Evangelische Verlagsanstalt in Leipzig war mein Wunschverlag“. Aus der Journalistenrunde wurde Dr. Kramer dann gefragt, ob er mit seinem profunden Wissen auch einer Einladung zu einer Fernsehdiskussion oder zu Gesprächsrunden in Printmedien folgen würde. Seine Antwort: Eine solche Einladung ist leider sehr unwahrscheinlich. Und manchem deutschen Kollegen stellt sich die Frage: Wann platzt in diesem Land nun endlich auch manchen Experten in anderen Bereichen der Gesellschaft endlich der Kragen, um gegen den immer weiter wuchernden woken Unsinn aufzutreten, sachlich, differenziert und profund zu argumentieren? Was hindert die Fachleute daran, gemeinsam mit der interessierten Bevölkerung manche Absurditäten im Diskurs einfach dem Gespött der öffentlichen Meinung der Leser und Zuschauer auszusetzen und einfach wegzulachen?

Wie Winnetou sich ausdrückt: „Howgh – ich habe gesprochen!“


 

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023

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