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Ronald Keusch

Berlin Jatzzt

Wie im Jazz-Club der Kunstfabrik Schlot Berliner Jazzgeschichte unterhaltsam erzählt wird





Jörg Miegel mit Band und Gästen im Schlot

Jörg Miegel mit Band und Gästen im Schlot


Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass die Revue durch ein Vierteljahrhundert Jazz-Geschichte von Berlin sehens- und hörenswert ist. Ihr Titel „Berlin Jatzzt“ ist so ungewöhnlich und neuartig wie ihr Konzept. Es ist eine Hommage an die Jazz-Szene in den bewegten Jahren 1945 bis 1970. 


Berlin Jatzzt

Liebe zum Jazz in Szene gesetzt

Im Jazz-Club Schlot wurde am 11. Februar 2024 nun schon zum neunten Mal „Berlin Jatzzt“ aufgeführt. Gründungsvater wie auch Hauptakteur für diese Reihe ist der Saxofonist Jörg Miegel, der seine Liebe zur Musik zu seinem Beruf machte, besonderen Spaß am Jazz hat und außerdem viel historische Neugier mitbringt. Die erhielt er in seinem Elternhaus vom klavierspielenden Vater und dem Onkel, einem Amateurmusiker, die in ihm das Interesse am Jazz, an Dokumenten und Zeugnissen der Nachkriegszeiten weckten. Die Jazzmusik war damals auch ein Stück kultureller Befreiung von der NS-Ideologie der Jahre 1933-45 in Deutschland. Der äußerst vielseitige und engagierte Musiker Miegel unterrichtet seit Jahren als Dozent an der Musikschule Charlottenburg-Wilmersdorf und organisiert Musik-Workshops. Außerdem absolvierte er mit seinem Saxofon Auftritte in Studio- und Theaterprojekten in Berlin wie im Grips-Theater, im Chamäleon und im Wintergarten-Varieté. Hier holte er sich den Appetit, um seine Liebe und sein Hobby in Szene zu setzen.


Hommage mit Plakaten und Jazz-Magazinen

Im Jahr 2011 fand die Premiere des Programms „Berlin Jatzzt“ statt. Die Premierenbühne der ersten Aufführung war die „Belle Etage“ des Cafe Bilderbuch in Berlin Schöneberg. Jörg Miegel gehörte schon seit langem zu den leidenschaftlichen und intensiven Sammlern der Berliner Jazz-Geschichte mit Plakaten, Pressefotos, Jazz-Magazinen, Schallplatten und Programmen unter anderem von den Berliner Jazztagen. Einiges davon konnte nun im Rahmen von „Berlin Jatzzt“ öffentlich präsentiert werden. In den ersten Jahren nach dem Kriegsende existierten kaum Noten von den Jazz-Musikstücken. So mussten die Swing- und Jazz-Fans sich als sogenannte „Rillenkratzer“ betätigen, um die von ihnen nachgespielten Titel von der Schallplatte runterzuhören. Doch im Mittelpunkt der Hommage an den Jazz steht – wie kann es anders sein – die vorgetragene Live-Musik, heute gespielt von Notenblättern, mit dem Bandleader Jörg Miegel und seinen Jazz-Musikern.


John Kunkeler (li.) und Jörg Miegel (re.) vor dem Logo des Jazzklubs Schlot

John Kunkeler (li.) und Jörg Miegel vor dem Logo des Jazzklubs Schlot


Jazzclub Schlot Heimat von Berlin Jatzzt

Das Projekt von Jörg Miegel hat nun seit einigen Jahren im Jazzclub Kunstfabrik Schlot in der Invalidenstraße Berlin Mitte eine würdige Heimstatt gefunden. Hier in den stilvoll ausgebauten Kellerräumen der Edison-Höfe begrüßt locker und unkonventionell John Kunkeler, Chef und zugleich Seele des Jazzclubs Schlot, nahezu täglich persönlich die Musiker und sein Publikum. So auch an diesem Sonntagabend Jörg Miegel und seine Band. Und Jörg Miegel kann für diese Hommage als speziellen Gast einen der profiliertesten Berliner Bariton-Saxophonisten als Gast präsentieren: Rolf von Nordenskjöld. Der Hochschulprofessor ist zugleich ein Verwalter des musikalischen Erbes von Helmut Brandt, einer Ikone der Berliner Jazzwelt. In der Band auf der Bühne vom Schlot ebenfalls als Gast der Gitarrist Joe Gehlmann, seinerzeit ein festes Mitglied des Helmut Brandt Mainstream Orchestra und zwei weitere Stars der Szene, die mit ihren Flügelhörnern anreisten: Die Trompeter Aki Sebastian Ruhl und Nikolaus Neuser. Außerdem in der Band Rolf Zielke (p), Michael Gechter (g), Kay Lübke (dr) sowie Marc Muellbauer (b). So hat diese Vorstellung von „Berlin Jatzzt“ wieder eine unverwechselbare Spezifik und den Hauch von Jazz-Improvisation.


Jörg Miegel (li.) und Gast Rolf von Nordenskjöld (re.)



Programm mit bunt gemischten Texten

Komplettiert wird die Live-Musik des Jazz-Revivals durch Texte, die Jazz-Fan Jörg Miegel über Jahrzehnte gesammelt hat und für die einzelnen Programme zusammenstellt. Vorgetragen von der Schauspielerin Petra Wolf, die auf der Bühne Platz bei den Musikern genommen hat, stehen traditionell bunt gemischt Texte an diesem Abend auf dem Programm. Unterstützt wird dieser Programmteil durch historische Fotos, die auf eine Leinwand neben der Bühne projiziert werden, sowie ebenfalls historischen Tonaufnahmen, für die Kerstin Brunke an der Technik sorgt. Die Textauswahl an diesem Abend reicht vom US-amerikanischen Maler, Grafiker und Karikaturisten George Grosz, den Erlebnissen der Jazz-Sängerin Billie Holiday, dem Auftritt von Ella Fitzgerald im „Studio 22“ in den 50er Jahren in Westberlin bis zu dem DDR-Schriftsteller und Satiriker John Stave sowie Zitaten aus dem Standardwerk „Jazz in Deutschland“ vom Jazz-Chronisten Horst H. Lange.


Ausstellungstafeln zu "Berlin Jatzzt" im Schlot


Mancher vermisst in der Retrospektive auf die Jazz-Musik dieser Zeit so legendäre Jazzmusiker von der anderen Seite der damals Berlin trennenden Mauer wie den Saxophonisten Ernst-Ludwig Petrowski, die „First Lady of Jazz“ Ruth Hohmann und den Pianisten Ulrich Gumpert oder auch den Auftritt von Ella Fitzgerald 1967 im Friedrichstadt-Palast in Ostberlin, wo zwei Jahre zuvor bereits Satchmo Louis Armstrong auftrat. Jörg Miegel sagt dazu nachvollziehbar und zutreffend, der DDR-Jazz sollte von denen, die ihn erlebt haben, beschrieben werden.


Schlussapplaus für die Akteure des Jazz-Abends

Schlussapplaus für die Akteure des Jazz-Abends

Abends in den Jazzclub die „Badewanne“

Und weiter geht an diesem Abend der Parcours durch die alten (West)-Berliner Jazz-Zeiten. Es wird erinnert an den berühmten Geiger und Leiter des legendären RIAS-Orchesters Helmut Zacharias. Dazu wurde sein Titel „Swing 48“ gespielt. In den Memoiren des Schauspielers Günter Lamprecht taucht der Jazzkeller „Badewanne“ auf mit dem Spruch „Immer sauber bleiben, abends in die Badewanne.“ Und auch die Geschichte mit dem Sänger Bully Buhlan wird erzählt, der im Nachkriegs-Chaos häufiger von Berlin nach Radebeul fuhr, damals eine Tagesreise, und die Erlebnisse dieser Fahrt in dem skurrilen Kult-Song vom „Kötzschenbroda-Express“ beschrieb. Er machte damit den Ortsteil von Radebeul deutschlandweit bekannt.

Verzeih'n Sie, mein Herr, fährt dieser Zug nach Kötzschenbroda?

Er schafft's vielleicht, wenn's mit der Kohle noch reicht.

Ist hier noch Platz in diesem Zug nach Kötzschenbroda?

Das ist nicht schwer, wer nicht mehr steh'n kann, liegt quer.

 

Fühlt sich da jemand an Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ erinnert? Nun, Bully Buhlan besang Kötzschenbroda schon 1947, Udo Lindenberg veröffentlichte sein Lied 1983 – und beide beruhen auf der genialen Melodie des Glenn Miller Klassikers von 1941 Chattanooga Choo Choo.


Schnall mal das Holzbein ab

Da gibt es Auszüge aus einem Buch des Jazz-Musikers Coco Schumann, der Ghetto und Auschwitz überlebte und seine Auftritte in Westberlin beschreibt. In diese Nachkriegszeit ist auch ein Erlebnis des Schlagzeugers Tom Holm angesiedelt. Es spielte sich in den Berliner Hungerjahren nach 1945 in einer US-amerikanischen Offiziersmesse ab. Hier hatte Tom Holm mit seiner Jazz-Band einen Auftritt und alle durften sich satt essen. Allerdings war das Hinausschmuggeln von Lebensmitteln strengstens verboten und wurde scharf kontrolliert. Damals spielte in der Band der Pianist Uli Gnaub, der durch eine Kriegsverletzung ein Holzbein trug, das ein perfektes Versteck für Essensreste bot. Als die Band dann Stunden später in einem anderen Club weiterspielte, hieß es beim Bier zur Pause: Schnall mal dein Holzbein ab, wir haben Hunger.


Jörg Miegel

Jörg Miegel

Einmaliges Projekt zur Jazz-Geschichte

Wie passen alle diese Geschichten zusammen? Jörg Miegel, der das Programm zusammenstellte, ist in jedem Fall, wie er von sich sagt, „ein Freund der Melange“. Und das Publikum ist begeistert.

Miegel bestätigt gern, dass sein Projekt als Hommage auf den Jazz im Nachkriegs-Deutschland bisher den Status einmalig besitzt. Diese Mixtur aus vorgetragenen Texten, Originalton-Aufnahmen, Kurz-Interviews, Foto-Projektionen, einem Dutzend Ausstellungstafeln und natürlich jeder Menge Live-Musik mit teilweise originalen Arrangements, mit wechselnden Musikern und Gästen gibt es bislang nur in Berlin.

In diesem Jahr sind noch drei weitere Abende „Berlin Jatzzt“ geplant, natürlich im Jazz-Club Schlot: Am 28. April, am 23. Juni und am 3. November..

 



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