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Ronald Keusch

Im Land der Edelkastanien

Die wilde Naturlandschaft der Ardèche vor den Toren der Provence




Im Wald der Esskastanienbäume
Im Wald der Esskastanienbäume


Der verlassene Dorfflecken Fayet Sanilhac


„Nachdem ich als Abenteurer hierher gekommen bin – kurz nach dem Mai 1968 – habe ich mit großer Erleichterung festgestellt, dass derjenige, der hier ist, um sein Leben anders zu leben, nicht alles neu erfinden, aufbauen, erobern muss. Es genügte, anzuknüpfen an das, was war.“ - Diese Zeilen schrieb der Aussteiger Holger Stephan für seine Kinder.

Quelle und Terrasse des Bauernhauses in Fayet
Quelle und Terrasse des Bauernhauses in Fayet

Er kehrte Deutschland vor mehr als 40 Jahren den Rücken und ließ sich mit seiner Frau in dem Weiler des verlassenen Dorfes Fayet Sanilhac im Süden der Ardèche nieder, zwischen Largentière und Joyeuse. Seine Liebe zu dieser Landschaft hat sich auf seinen hier aufgewachsenen Sohn Pascal Schlüter übertragen. Der studierte Bauingenieur baute im Weiler sein eigenes Bauernhaus aus Stein, lebt hier mit seiner französischen Frau und empfängt hier die Urlauber wie früher seine Eltern.


Pascal, der fließend deutsch und französisch spricht, setzt seinen zweijährigen Sohn Hugo in ein Tragegestell auf seinem Rücken und macht mit mir einen Spaziergang durch den Weiler.


Pascal Schlüter mit seinem Sohn Hugo auf der Schulter
Pascal Schlüter mit seinem Sohn Hugo auf der Schulter


Landschaft der Terrassen


„Es gibt unheimlich viel zu entdecken, nicht nur die wilde Natur. Überall befinden sich aus Steinen angelegte Terrassen, unter der Erde und dem Gras schimmern gepflasterte Wege durch, dort sind Steinplatten ausgelegt“, erzählt Pascal und kann sich schnell begeistern. Allerorten seien auf dem Weg Genie und Ausdauer erkennbar, mit denen dreißig Generationen tausend Jahre lang gewirkt haben.


Nahe den Häusern stehen die Bäume der Esskastanien. Dutzende Kastanien in ihrem Schalenmantel, aus dem meist schon die Früchte herauslugen, bedecken den Boden. Überall sind auch verlassene Gärten zu sehen und die Reste von Bewässerungsrinnen und immer wieder kleine Terrassen, verfallene Steinmauern und Wege.


Alte Wege im Weiler Alter Römerweg (Foto: Pascal Schlüter)

Hier im Süden der Ardèche verläuft die nördliche Grenze von Südfrankreich, an der sich noch Lavendel und Olivenbäume behaupten können. Es ist ein Spaziergang durch „handgemachtes“ Leben, an diesem Ort scheint man zu spüren wie die Geschichte von Menschen atmet. Von den einzelnen Bauwerken scheint Poesie auszugehen und wenn die Sonne durch die Blätter der Kastanienbäume scheint, meint der Betrachter, in einen Märchenwald eingetaucht zu sein.

Wald der Esskastanien im Herbst (Foto: Pascal Schlüter)
Wald der Esskastanien im Herbst

Zurück zum Bauernhaus führt der Weg durch den authentisch gebliebenen mittelalterlichen Weiler vorbei an provenzalischen Landhäusern mit charmanten Terrassen und Häuserfassaden, die von bunt gefärbten Weinreben bewachsen sind.


„Den vermauerten Felssteinen der Häuserwände kann der Bewuchs nichts anhaben“, erklärt Pascal. Sein Bauernhaus bietet zwei geräumige Gästezimmer, einen Swimmingpool bestückt mit Liegen und eine Sauna. Außerdem gibt es im Weiler noch fünf Ferienwohnungen.

Authentisch ist natürlich auch die Küche, die beim französischen Frühstück mit vier von Pascal selbst hergestellten Marmeladensorten beginnt: Weiße Feigen mit Rum und Vanille, Pfirsich mit ein bisschen Minze (wegen der Frische!), Pflaumenmarmelade mit ganzen Früchten und nicht zuletzt die berühmte Marmelade aus Esskastanien.


Pool des Bauernhauses Haus mit Ferienwohnungen im Weiler


Die Kultur der Kastanie


Seit vielen Jahrhunderten wird das Departement Ardèche von den Bäumen der Edelkastanie geprägt. Die Bäume bevorzugen für ihr Wachstum eine Höhe von 350 bis 750 Meter, sonnige und nicht zu feuchte Hänge und Böden aus Granit und Schiefer, keinesfalls jedoch Kalk – all das gibt es in der Region Ardèche jede Menge. Mehr als tausend Jahre ernährte die Edelkastanie mit ihrem gemahlenen Mehl als „Brotbaum“ die Bevölkerung.


Im Kastanienwald
Im Kastanienwald

Vor 200 Jahren setzte dann der Niedergang der Kastanienkultur ein. Mehr als 60.000 Hektar Anbaufläche schrumpften auf weniger als ein Zehntel. Doch auch mit nur 5.000 bis 6.000 Hektar genutzter Anbaufläche und darüber hinaus den vielen wild wachsenden Bäumen hat sich die Edelkastanie als ein Markenzeichen der Region behauptet.


Frèdèric Lavesque besitzt in dem kleinen Ort Largentiere einen Supermarkt, handelt mit der Edelkastanie und hat natürlich einige ihrer Sorten im Angebot. Immerhin liefert er in andere Teile Frankreichs pro Jahr 150 Tonnen der Kastanien. „Die Mengen der Esskastanie haben sich auf niedrigem Niveau behauptet und sind aus unserem Angebot überhaupt nicht wegzudenken.“ Die Edelkastanien gibt es bei ihm geschält in Gläsern, abgepackt als Kastanienmehl, als Creme, als Likör. „Am besten schmeckt der Likör aus Kastanien mit einem Schuss Weißwein aus der Region“, klärt er den Besucher auf, hat den Likör schon eingeschenkt und auch eine offene Flasche Chardonney in der Hand und füllt die Gläser. Der Aperitif Castagnou kann, so weiter Frèdèric, statt mit Wein noch mit einem Schuss Sekt weiter veredelt werden – „Sante!“


Kastanienhändler Frederic Lavesque Vielfältige Produkte aus Kastanien

Das Museum im Oratorianer Kolleg von Joyeuse
Das Museum im Oratorianer Kolleg von Joyeuse

Angesichts dieser Hauptrolle, die die Edelkastanie in der Archèche immer noch spielt, wurde es höchste Zeit, ihr ein Denkmal zu setzen. Im Jahr 1987 wurde in dem kleinen Städtchen Joyeuse das Museum des Esskastanienhaines gegründet und als Ausstellungsort eines der schönsten Gebäude des Ortes ausgewählt, ein ehemaliges Oratorianer-Kolleg aus dem 17. Jahrhundert. Hier dreht sich alles um die Kastanienkultur - vom Anbau bis zur Verarbeitung und den vielfältigen Produkten. Die kann man dann auch im Souvenirshop kaufen und man staunt, was man nicht alles aus der Kastanie herstellen kann: Kastanien-Cremes, Kastanienhonig, Kastanien-Honigkuchen, Kuchen oder Kekse aus Kastanienmehl, Pasteten mit Kastanienfüllung - natürlich auch vegetarisch, Bonbons, Lutscher, Sirup, Likör; außerdem natürlich Kunsthandwerk, Rezeptbücher, Postkarten und vieles mehr.


Über dem Nachbarort Montreal mit gerade mal 500 Einwohnern thront eine Höhenburg aus dem frühen 13. Jahrhundert. Sie sollte gemeinsam mit sieben anderen Burgen die Silberbergwerke der Region sichern. Der heutige Eigentümer – ein gelernter Maurer – ist dabei, die Burg schrittweise zu restaurieren. Im Sommer bietet sie die passende Kulisse für Mittelalter-Festspiele.

Montreal mit seiner Burg (Foto: Pascal Schlüter)

Die Marone ist eine Edelkastanie


Eine kleine Renaissance gelang der Edelkastanie Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts mit den „Marrons glacés“. Die kandierten Esskastanien, früher sogar am französischen Königshofe verspeist, wurden eine beliebte Süßigkeit für den Mittelstand, hatten allerdings auch ihren Preis. Und dann tauchte damals auf einmal bei einigen der Schönen und Reichen die Legende auf, so berichten Historiker, dass diese glasierten Maronen auf keinen Fall etwas zu tun haben mit den „gemeinen Esskastanien“, die ja nur von den armen Leute gegessen werden. Den Kastanienverkäufern kann das nur recht gewesen sein: Hochmut bezahlt gut. Der Kastanienexperte Frèdèric schmunzelt dazu nur: „Solche Meinungen sind lächerlich - natürlich ist die Marone eine Sorte der Esskastanie. Richtig ist allerdings: Kandierte Maronen sind eine Delikatesse!“

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