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  • Ronald Keusch

„Odyssee in der Distel“

Kabarett-Theater Distel feiert Jubiläum mit neuem Programm

Das legendäre Berliner Kabarett-Theater „Die Distel“ am Bahnhof Friedrichstraße feiert jetzt im Oktober das 65. Jubiläum. In ihrer Pressemappe versichert die Distel, mit dem erreichten Alter noch nicht in die Rente zu gehen mit der für alle nachvollziehbaren Begründung: „Der Irrwitz in Politik und Gesellschaft lässt das Kabarett zu keiner Zeit alt aussehen.“ Bemerkenswert schließlich das Versprechen: „Ein eher moralisierendes Kabarett hat sich überholt und würde ohnehin nur die erreichen, die diese Standpunkte schon teilen. Anstatt Antworten zu geben, kann Kabarett wohl eher Fragen stellen und mit der Unsicherheit und den verschiedenen Ansichten der Besucherinnen und Besucher spielen.“

Gut gebrüllt Kabarett Löwe Distel, in einer Zeit, in der zunehmend die veröffentlichte Meinung sowie eine Mehrheit der „Kulturschaffenden“ so intensiv mit dem verordneten Zeitgeist kuscheln. Aber kann das Distel-Kabarett dieses Versprechen auch auf der Bühne mit dem neuen Programm „Odyssee im Hohlraum“ erfüllen und vorrangig kritische Fragen stellen? Eine Gewähr dafür schien gegeben. Der federführende Autor ist Thomas Lienenlüke. Er hat im April 2017 in seinem Distel-Debüt „Zwei Zimmer, Küche, Staat“ eindrucksvoll bewiesen, dass er für heutiges politisches Kabarett über ein gutes Händchen wie auch den notwendigen Biss verfügt.


Die Grundfabel des Distel-Theaterstücks „Odyssee im Hohlraum“ ist durchaus frappierend und spannend. Ein „guterhaltenes“ ostdeutsches Ehepaar wird in einem zugemauerten Kellerraum eines Callcenters in Berlin entdeckt. Sie haben sich, wie sie berichten, in diesem Hohlraum schon im Jahr 1953 vor den Russen versteckt. Ernährt haben sie sich 65 Jahre von Würzfleisch-Konserven, die dort lagerten. Und nun betrachten die beiden mit naivem Blick die heutige globalisierte Welt, die wiederum ihre hanebüchene Geschichte wirtschaftlich und politisch vermarkten will. Eine der Pointen der Geschichte geht am Ende des Stückes ein wenig unter. Das ostdeutsche Rentner-Ehepaar hat sich die Geschichte mit Hilfe und Tipps ihres Sohnes, der im Callcenter arbeitet, ausgedacht, um die kleine Rente aufzubessern und richtig Kohle zu machen. Soweit die Rahmenhandlung. Sie ist eine wunderbare Ausgangssituation, der heutigen Gesellschaft und den herrschenden Kreisen in Wirtschaft, Politik und Medien vorbehaltlos von der Kabarett-Bühne einen Spiegel vorzuhalten. Doch darauf wartet das Publikum leider oft vergebens. Eine der wenigen originellen zündenden Pointen lautet am Ende des Stücks so: der Ostrentner Josef, der sich diese haarsträubende Lügengeschichte mit seiner Frau Maria ausgedacht und so anschaulich und überzeugend erzählt hat, erhält ein Jobangebot als Pressesprecher bei der Merkel-Regierung - mit schönem Gruß an den derzeitigen Regierungssprecher Seibert.

Stattdessen kann sich der Zuschauer nur mäßig an einer Vollversammlung von Klischees erfreuen, die wie in einem Panoptikum vorgeführt werden: der Unternehmer des Call-Centers ist selbst in der Karikatur noch überzeichnet, die Figur von Sarah Wagenknecht geistert als Mitarbeiterin mit belanglosen Reden im Callcenter herum, Alice Weidel vom Finanz-Adel von Goldman Sachs, derzeit Frontfrau der CDU 2.0 (bislang noch AFD genannt) wünscht sich das Radio „Volksempfänger“ zurück, vermutlich für die Beschleunigung der Globalisierung. Und es muss auch noch Platz gefunden werden für solche Witzchen. Frage: Was ist das Dschungelcamp? Die DDR nur mit schlechterem Essen.

Dabei könnte das Kabarett-Programm mit den beiden Ost-Rentnern aus dem Kellerraum eine Unmasse an Widersprüchen und Problemen auf die Bühne bringen und nicht nur in einem Halbsatz. Da drängen die Themen wie Wohnungsnot und Mitwucher, Beschäftigungszahlen und prekäre Arbeitsverhältnisse, die weiter auseinander gehende Schere zwischen arm und reich. Und natürlich das dringende Thema der Russophobie, die sogar bei führenden Funktionären der SPD Einzug gehalten hat. Auch hier bietet die story der Flucht und der Angst vor den Russen eine nachdenkliche Sicht. Schließlich kann sich der Besucher auch bei diesem Programm nicht des Eindrucks erwehren, dass die behandelten Themen mit Bundeskanzlerin Merkel scheinbar nichts zu tun haben. Ihre Widersacher Spahn und Seehofer in CDU/CSU bekommen ihr verdientes Fett weg, die AFD sowieso. Zwei Kabarettisten treten zwei Mal unspektakulär in der Figur von Merkel als Rautenfrau auf. Das Programm „Odyssee aus dem Hohlraum“ wird allen Merkel-Fans, die ihre Politik teilen oder sogar bewundern, ganz sicherlich gefallen. Wenn Angela Merkel sich dieses Distel-Programm ansehen würde, bliebe sie sicherlich bis zum Schluss und würde Applaus spenden. Aber ein Kabarett, das der Stachel am Regierungssitz sein will, müsste mit seiner Kritik das Publikum begeistern und die Bundeskanzlerin vielleicht schon zur Pause in die Flucht schlagen.



Die Begeisterung des Publikums hielt sich während der Aufführung in Grenzen, Beifall zu einzelnen Szenen blieb eher rar. Der freundliche Applaus zum Finale richtete sich zu großen Teilen an die Musiker und Kabarettisten. Die Distel hat es hervorragend geschafft, eine Mischung von Jung und Alt mit schauspielerischem Talent auf die Bühne zu bringen, ein Qualitätsmerkmal des Berliner Kabaretts an der Friedrichstraße. Besonders mit Beifall bedacht wurden die beiden langjährigen Stars der Distel, Dagmar Jaeger und Michael Nitzel, die die „Ossis“ aus dem Hohlraum einfühlsam in Szene setzten. Sie haben jetzt auch das Rentenalter erreicht und übergeben den Staffelstab an die Jungen. Im 65. Jubiläumsjahr wünschen sich ihre Kabarett-Freunde, dass die Distel satirisch Probleme tiefer auslotet und mehr die Themen unserer Zeit in Frage stellt. Nur dann bleibt sie jung und muss nicht demnächst doch noch in die Rente gehen.


Fotos: Chris Gonz, Distel

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