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Ronald Keusch

Ballon fahren und Engel besuchen

Die litauische Hauptstadt Vilnius präsentiert in ihrem Tourismus-Programm zwei Glanzlichter




Blick auf Vilnius mit Heißluftballons
Blick auf Vilnius mit Heißluftballons


In guten Zeiten mit hohen Touristenzahlen samt Gedränge kann die Stadt Vilnius mit einem eleganten Vorschlag für etwas Entspannung sorgen. Sie gehört in Europa zu den städtischen Metropolen, die für ihre Besucher zahlreiche Möglichkeiten bieten, mit dem Heißluftballon in die Luft zu steigen. Das kann auf der Erde ein klein wenig mehr Platz schaffen. Da die Ballone wegen der notwendigen Thermik allerdings nur in den frühen Morgenstunden zwischen 5 und 9 Uhr oder am frühen Abend in die Luft steigen, ist diese Variante des Auflösens von zu viel Gedränge wohl eher aus der Luft gegriffen. Aber die litauische Hauptstadt liegt so wie auch das gesamte Land Litauen mit mehr als 100 einsetzbaren Heißluftballons und dazu gehörigen Piloten samt Equipment ganz weit vorn in der Rangliste europäischer Länder, so wird stolz verkündet. Die Flugsaison läuft von April bis Oktober. Wenn es das Wetter erlaubt, fliegen die Ballons auch im Winter. Die Flüge erfolgen nicht nur in Vilnius, sondern auch vom nahen Ausflugsort Trakai, der zweiten großen Stadt Kaunas sowie Klaipeda, Palanga, Siauliai, Panevezys, Birstonas, Druskininkai, Alytus und anderen Orten in Litauen.



Pilot Giedrius Leskevicius
Pilot Giedrius Leskevicius

Über den Dächern der Altstadt

Der Heißluftballon ist in der Hauptstadt nicht nur bei Touristen, sondern auch den Einheimischen sehr beliebt, weil es eine Besonderheit gibt. Vilnius ist eine der ganz wenigen europäischen Städte, in denen die Heißluft-Ballontouren mitten in der Stadt starten. Längere Anfahrtswege entfallen und es eröffnen sich schöne Sichten auch auf die Altstadt. Die Ballon-Passagiere (Preise ab 140 Euro pro Person) werden wie auch anderswo standesgemäß im Hotel um 5 Uhr in der Frühe abgeholt. Mein Pilot ist Giedrius Leskevicius. Er erklärt seinen Fluggästen gleich zu Anfang, dass er bereits 1400 Ballonflüge absolvierte, immer mit einer glücklichen Landung. Das beruhigt die Gemüter der Fahrgäste. Aber Giedrius Leskevicius ist nicht nur einer der erfahrensten Ballonfahrer, sondern Journalist und mit Fernseh-Moderationen im ganzen Land bekannt, wie ich später erfahre. Eine kleine Kostprobe seines Talents im Entertainment liefert er später während der Ballonfahrt.


Startplatz an der Neris in der Morgensonne Ballons über Vilnius

Der Kleinbus mit dem Anhänger, auf dem der Ballon zusammengelegt ist, hat nach wenigen Minuten den Startplatz erreicht. Er ist mitten in der Stadt eingerichtet, ein großflächig mit Rasen bewachsener Uferbereich des Flusses Neris. Auf der anderen Seite des Flusses schimmern in der Altstadt mit der ersten Morgensonne einige Kirchentürme.


Pilot Leskevicius und sein Teampartner, der den Ballon mit dem Auto verfolgt und uns wieder einsammeln wird, bereiten zügig und routiniert den Ballon für die Fahrt vor. Zuvor noch eine kurze Einweisung an uns insgesamt sieben Fahrgäste. Möglichst wenig Bewegung in der Ballongondel, nur die Anweisungen des Piloten gelten.



Vorbereitung der Ballonfahrt


Fliegen oder fahren ?

Wären wir in Deutschland, hätten wir uns mit der Wortwahl vom „Ballon fliegen“ schon von vornherein disqualifiziert. Nur alles das, was schwerer als Luft ist und dynamische Luftbewegungen erzeugt, fliegt, so wie ein Flugzeug. Gefährte wie Ballone oder Luftschiffe, die durch erzeugte Wärme oder auch durch den Einsatz spezieller Gase wie Helium leichter als Luft sind, fahren. So sagen die Physik, die Ballon-Branche und alle mit diesem Wissen vorgebildeten Ballonfahrer. Ich lerne allerdings auch, dass wohl nur die Deutschen so pedantisch-fanatisch auf der „richtigen“ Wortwahl bestehen. Eigentlich stammt der Begriff „Fahren“ aus dem Vokabular der Seefahrt, den die ersten Pioniere im Mutterland des Ballonfahrens Frankreich einfach übernommen haben. Schon im Englischen gibt es alle Varianten, von „ride“, „fly“ bis zu dem – wenn man schon die Physik bemüht – richtigen Begriff „float“.


Der Ballon wird mit Heißluft aufgerichtet Der Pilot justiert die Brenner Startender Ballon

An diesem Morgen machen sich gleichzeitig sechs Ballons fertig, um in die Luft zu steigen. Die riesigen Hüllen der Heißluftballons werden entrollt und die Heißluftgebläse unter Getöse angeworfen. Der Ballon richtet sich langsam auf, noch schnell ein paar Schritte in die Ballonhülle hinein und einige Schnappschüsse des Kapitäns vor dem sich aufwölbenden Stoff. Dann schon einsteigen und los geht es. Wie die Schiffe im Wassermeer, entschweben wir, steigen ganz langsam auf und fahren langsam durch das Luftmeer.


Ballonfahrt über Vilnius

Nun ist wieder sehr intensiv die Natur zu erleben. Nur ein paar aufsteigende Nebelfetzen am Horizont, ansonsten ist die Sicht in der aufgehenden Morgensonne klar. Zum Fotografieren aus dem Korb hat jeder ausreichend Platz. In der Ballongondel herrscht totale Windstille. Unter uns noch die Häuser von Vilnius, schade, leider nur kurz die Altstadt. Unser Kurs führt uns über unberührte Landschaft, ohne Wege.


Überwältigende Sicht auf Vilnius
Überwältigende Sicht auf Vilnius

Unser Pilot ist von seinem Ballon, von seinem Flugwetter und von seinen Fahrgästen begeistert. Er stimmt das Lied von der Wonderful World an und singt mit lauter Stimme:

Der singende Pilot
Der singende Pilot

I see trees of green, red roses too I see them bloom, for me and you And I think to myself, what a wonderful world!

Yes, I think to myself, what a wonderful world!

Oh yeah!


Alle im Korb vom Ballon applaudieren und er bedankt sich, in dem er sich leicht verneigt, aber die Seile zum Lenken des Ballons hält er fest in den Händen.


Mittlerweile haben wir den Stadtrand erreicht, immer gefolgt von weiteren vier Heißluftballons in unterschiedlichen Farben, die aus der Ferne wie bunte Seifenblasen aussehen. Der Ballon verringert die Höhe, wir gleiten schon recht tief über Baumwipfel, auf der Terrasse eines Einfamilienhauses unterbricht eine Frau ihre Gymnastik und winkt uns zu und wir zurück. Eindrucksvoll das Blau vieler kleiner Seen und der Schatten unseres Ballons in den dichten Zweigen von Baumgruppen.


Ballon-Schatten
Ballon-Schatten

Zurück auf der Erde
Zurück auf der Erde

Pilot Giedrius Leskevicius steuert eine Wiese an und landet ganz sanft mit einem kleinen Ruck auf einem schmalen Feldweg. Trotz schöner Fahrt und eleganter Landung sind nun doch die Passagiere froh, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Alle packen mit an, um den Ballonschirm zusammenzulegen und auf den Hänger zu bugsieren.

Dann knallt ein Champagnerkorken. Es folgt die unvermeidliche Ballon-Landungs-Zeremonie. „Jeder waschechte und gestandene Pilot hat Champagner an Bord, um nach der Landung anzustoßen“, so die Meinung des erfahrenen Ballonfahrers. „Aber auch das Element der Erde ist nach glücklichem Abschluss der Ballonfahrt in die Zeremonie einzubringen“, so Giedrius. Alle bekommen vom Zeigefinger des Piloten einen Fingerabdruck mit Erde auf die Stirn und ein Glas Champagner in die Hand gedrückt.



Ballonfahrertaufe mit Erde und einem Glas Sekt
Ballonfahrertaufe mit Erde und einem Glas Sekt

Nein, abergläubig ist Giedrius nicht. Für ihn ist der Heißluftballon das sichererste Mittel in der Luftfahrt. Der Ballon ist sehr einfach aufgebaut, es gibt einen Doppelbrenner, bei dem nur unter ganz besonderen Umständen beide Brenner gleichzeitig ausfallen. Selbst wenn ein Brenner ausfällt, kann man sich leicht in Sicherheit bringen. Soweit die Theorie. Aber auch der routinierte Ballonfahrer ist sichtbar froh, wieder mit allen gut gelandet zu sein. Die Sonne steht mittlerweile am Morgenhimmel.



Ballonfahrer-Zertifikat „Duke from Vilnius“
Ballonfahrer-Zertifikat „Duke from Vilnius“


Uzupis – jenseits des Flusses

In den Städten Europas sind Künstlerviertel keine Seltenheit. Wer denkt da nicht an Montmartre in Paris, den Chelsea Arts District in London oder den Arbat in Moskau. Doch das Künstlerviertel in Vilnius stellt etwas Besonderes dar und ist mit anderen Künstlerquartieren nicht vergleichbar. Es trägt den Namen „Uzupis“, was so viel bedeutet wie Jenseits des Flusses. Denn der relativ kleine Stadtteil von nur etwa 60 Hektar mit etwa 7.000 Bewohnern liegt am Ufer der Vilnia und ist sogar von drei Seiten mit Wasser umgeben.


Hier beginnt die Republik Uzupis
Hier beginnt die Republik Uzupis

Über Jahrhunderte ein Arme-Leute-Viertel, teilweise mit verwahrlosten Häusern, wurde es von Kunststudenten, Nonkonformisten und Außenseitern der Kunstszene in Vilnius neu entdeckt und zum Leben erweckt. Das alternative Leben, mit einer Prise Aussteiger-Romantik und närrischer Freude am Skurrilem mündete vor 25 Jahren in einer genialen Idee der Feier- und Partygemeinde. Im Jahr 1997 wurde ganz offiziell die Republik Uzupis ausgerufen.


Künstler-Ambiente Hängende Sitzbank am Fluss

Der Sitz des Parlaments ist ein Cafe

Ein Staat in bester Eulenspiegel-Art mit eigener Verfassung, sogar eigener Flagge. Zum Sitz des Parlaments von Uzupis, einer Art Bundestag, wurde standesgemäß mitten im Kiez das Cafe Uzupio Kavinè befördert. Wie es sich für einen richtigen demokratischen Staat gehört, wurde die Verfassung unübersehbar öffentlich gemacht am Eingang des Viertels. Und wie für die Ewigkeit erlassen, sind die einzelnen 41 Paragrafen der Verfassung auf Bronzetafeln eingraviert, in mehreren Sprachen, auch in Deutsch. Neben einer ganzen Reihe nett zu lesender allgemeiner Rechte wie: Jeder hat das Recht glücklich zu sein und unglücklich zu sein, scheint ein Recht besonders für den deutschen Touristen in dieser Zeit formuliert zu sein: Jeder Mensch hat das Recht auf heißes Wasser, Heizung im Winter und ein gedecktes Dach. Papst Franziskus segnete bei einem Besuch Litauens im Jahr 2018 diese unorthodoxe Verfassung.


Pavillon der Künstler Grenzfluss mit verrosteten Liebes-Schlössern

Anfangs sicher von den Stadtoberen und auch den Touristikern selbst im toleranten Vilnius etwas misstrauisch beäugt, ist die Narrenrepublik zum Hot Spot für Touristen und auch zu einer beliebten Adresse für die Einwohner aufgestiegen. Am 1. April, wie kann es anders sein, wird mit Umzügen und Konzerten der Tag der Republik Uzupis gefeiert. An diesem Tag werden auch an den Brücken in das Viertel Grenzkontrollen durchgeführt. Natürlich darf jeder mit einem Stempel auf der Hand passieren. An einer der Brücken hängen unzählige Liebesschlösser, die nach ihrem Aussehen hier schon lange hängen und wohl auch weiter hängen bleiben, im Unterschied zu anderen Städten Europas, wo sie regelmäßig entfernt werden.


Der zentrale Platz der Engelsrepublik
Der zentrale Platz der Engelsrepublik

Der Engel mit Horn
Der Engel mit Horn

Sei fröhlich in der Engelsrepublik

Nun gibt es in Vilnius, wie der Guide Kristupas Sepkus lächelnd erzählt, auch einen Präsidenten von Uzupis, der sogar diplomatischen Hof hält. Und tatsächlich macht eine ganze Reihe neuer ausländischer Diplomaten den Spaß mit und dort ihren Antrittsbesuch, darunter auch der Dalai Lama, der Ehrenbürger von Uzupis ist. Als das Wahrzeichen der Republik wurde ein Denkmal in der Uzupio-Straße auserkoren. Es zeigt einen Engel, der auf einer hohen Säule auf einer Kugel balanciert und in ein Horn bläst. Von dem Hornisten mit Flügeln ist auch die liebevolle Umschreibung abgeleitet: „Engelsrepublik“.


Kurzfassung der Verhaltensregeln für Uzupis
Kurzfassung der Verhaltensregeln für Uzupis

Übrigens auf dem Eingangsschild der Republik sind per Bild noch vier Verhaltensnormen aufgereiht.

Ein Smiley-Zeichen ist selbsterklärend: Sei fröhlich und lustig. Auch wenn das gegen den Paragrafen der Verfassung verstößt: Jeder Mensch hat das Recht, unglücklich oder schlechter Stimmung zu sein – das wird hier nicht so eng gesehen.

Die nächste Regel ist: Bewege Dich langsam, mit 20 km/h.

Weiterhin wird gefordert: Sei rätselhaft und künstlerisch so wie die abgebildete geheimnisvoll lächelnde Mona Lisa.

Und schließlich zu guter Letzt: Mind your step, damit Du nicht mit Deinem Auto in den Fluss fällst.



Guide Kristupas vor dem Symbol "Loch in der Hand" Restaurant in Uzupis

Die offene Hand mit einem Loch

Selbstverständlich sind überall Boutiquen zu finden, die Kunsthandwerk verkaufen. Die Manufakturen der Künstler können besichtigt werden. Mit der Idee der unangepassten Republik Uzupis haben viele Menschen Geld verdient. Das Symbol der Republik ist eine offene Hand mit einem Loch darin. Eigentlich soll das Loch verdeutlichen, dass diese Hand unfähig ist, Bestechungsgelder anzunehmen. Guide Kristupas meint allerdings, dass das Loch heute eher zeigt, wie das wenige Geld der verarmten Künstler entschwindet. Wie zu hören, steigen mittlerweile Mieten wie Wohnungspreise in der Republik. Das bedeutet: Die nicht ausreichend Etablierten und sozial Schwächeren müssen gehen. Alle die Künstler, die heute nach Uzupis ziehen wollen, müssen schon das nötige Kleingeld mitbringen, anders als die Gründer der Republik. Es reicht eben nicht, das Leben mit Humor zu nehmen und frei zu denken.


Festival Rudy`s Kombucha alcohol-free Liegeplätze in der Badewanne

Ich besuche am frühen Abend Uzupis, wo an diesem Tag Rudy`s Kombucha ein Festival veranstaltet, überwiegend ohne Alkohol und mit zuckerfreien, „naturally fermented“ Getränken, abgefüllt in kleinen bunt bedruckten Blechdosen. Ein Dutzend Besucher frequentiert die aufgebauten Stände. Wenig Festival und mehr Business. Eine Büchse kostet stolze 3.50 Euro. Keine Hippi-Kommune, die im Fluss badet, sondern zwei junge Frauen, die in ihren poppigen Klamotten sich in einer leeren Badewanne ausgestreckt haben und einen Drink nehmen.


Die Meerjungfrau von Uzupis
Die Meerjungfrau von Uzupis

Die Touristengruppen sind schon lange in ihren Hotels verschwunden. Unter einer Brücke ist über dem Fluss eine Schaukel für zwei Personen aufgehängt. Sie wird immer wieder von Pärchen erklommen und dann werden Fotos geschossen.

Die Meerjungfrau von Uzupis ist in der Nische einer Mauer am Fluss Vilnia platziert, direkt gegenüber der legendären Kneipe Uzupio Kavinè. An diesem Abend ist die Theke verwaist, scheinbar werden am heutigen Abend keine Gäste mehr erwartet. Die Meerjungfrau von Uzupis schaut fast so geheimnisvoll wie Mona Lisa. Sie ist genauso wie viele poppige und originelle Kunstwerke an Hauswänden und in Restaurants ein beliebtes Motiv für Schnappschüsse und eine der größten Sehenswürdigkeiten in Vilnius.


Abends am Ufer der Vilnia mit besetzter Sitzbank
Abends am Ufer der Vilnia mit besetzter Sitzbank



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