top of page
  • Ronald Keusch

Der Ritt auf der Bombe


Heute gilt mehr denn je, aus der Geschichte zu lernen




Schluss-Szene des Bombenritts aus Stanley Kubricks Meisterwerk "Dr. Seltsam"
Ritt auf der Bombe aus Stanley Kubricks Meisterwerk "Dr. Seltsam"

Die wachsende Bedrohung durch einen Weltkrieg im nuklearen Zeitalter erhöht sich für den aufmerksamen Beobachter nahezu täglich. In Deutschland scheinen die Führungsspitzen der Regierungsparteien genauso wie der Opposition von CDU und sogar weiten Teilen der Linken am Gängelband der Rüstungslobby und von US-Geostrategen zu hängen, um unverdrossen lautstark zu verkünden: „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen!“ Auf der diesjährigen Bilderberg-Konferenz Ende Mai in Lissabon trafen sich einflussreichste Politiker, Militärs, Wirtschafts- und Medienleute, um mit überalterten Losungen den kalten Krieg zu feiern und zu forcieren. Laut offizieller Teilnehmerliste ist Deutschland vertreten mit den zwei Scharfmachern aus der Politik Norbert Röttgen von der CDU und Anton Hofreiter von den Grünen. Hofreiter gehört zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs am 10. Mai an US-Präsident Biden, in dem der Präsident peinlich untertänigst darum gebeten wird, der Lieferung von Kampfjets in die Ukraine zuzustimmen. Die deutschen Staatsmedien feiern das von der Bundesregierung beschlossene 2.7 Milliarden Euro schwere Rüstungspaket für die Ukraine und überbieten sich in Russophobie und Kriegshetze.

Wo sind die Stimmen des Friedens und der Vernunft, die den Kriegstreibern heute in den Arm fallen? Wieso spielen heute – 78 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki – wieder Politiker, Generäle und Journalisten mit dem Atomknopf? Haben sie nichts gelernt aus der Geschichte?



An der Schwelle zum atomaren Inferno

Die Menschheit stand bereits mehrfach in der Vergangenheit an der Schwelle zu einem atomaren Inferno. Während der Kubakrise ging es um die Stationierung von Mittelstreckenraketen der USA in der Türkei und der Sowjetunion auf Kuba. Im Bunker-42 in Moskau - seit 2006 ein Museum - kann man heute den Gefechtsstand und die Kommandozentrale besichtigen, in der Chruschtschow und seine Generäle 1962 zehn Tage lang die militärische Lage diskutierten. Eine direkte Konfrontation konnte nur abgewendet werden, weil beide Seiten die roten Linien des anderen respektierten.


Das Museum des Kalten Krieges "Bunker-42" in Moskau Kommandozentrale im Bunker-42 während der Kubakrise

Am 26. September 1983, unmittelbar vor der Stationierung neuer Pershing-2-Rakten und Cruise-Missiles in Westeuropa, meldeten sowjetischen Satelliten den Abschuss von US-amerikanischen Atomraketen mit Ziel Russland. Nur weil der russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow den Alarm als Fehlalarm einstufte und den Kreml nicht benachrichtigte, wurde die fatale Kettenreaktion eines nuklearen Gegenschlages verhindert.

Der Investigativ-Journalist Eric Schlosser recherchierte und veröffentlichte eine Reihe von Zwischenfällen - Explosionen im Raketensilo, Abstürze von atombestückten B-52-Bomben oder fehlgeschalteten Computersystemen – die jeder für sich allein eine atomare Katastrophe in den USA hätte auslösen können. Sein Resümee lautet: Es existiert keine hundertprozentige Sicherheit beim Umgang mit Nuklearwaffen (https://thebulletin.org/premium/2023-05/interview-with-eric-schlosser-why-we-cant-trust-the-governments-figures-about-nuclear-close-calls/#post-heading).



„Wir brauchen nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung“

Vor 40 Jahren, im Oktober 1983, demonstrierten bundesweit rund 1,3 Millionen Menschen gegen Aufrüstung und die Stationierung neuer Atomraketen in Mitteleuropa, die größte Friedensdemo in der bundesdeutschen Geschichte. Den „Krefelder Appell“ der Friedensbewegung vom November 1980 unterschrieben über drei Millionen. Mehr als 800 Organisationen unterstützten die machtvollen Friedensdemonstrationen und forderten Abrüstung und eine Fortsetzung der Entspannungspolitik. Allein in Bonn gingen 1983 etwa eine halbe Million Menschen auf die Straße und bildeten einen Menschenstern, der die Botschaftsgebäude der fünf Atommächte miteinander verband. Im Hofgarten sprach unter anderem Willy Brandt, und bezog gegen den NATO-Doppelbeschluss Position, der zunächst von der SPD geführten Regierung unter Helmut Schmidt eingefädelt und dann von der CDU geführten Regierung unter Helmut Kohl vollendet wurde. Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger – so lautete eine seiner Kernaussagen. An vorderster Front der Friedensbewegung stand damals eine gerade gegründete junge Partei, die Grünen, mit Petra Kelly und Gert Bastian an ihrer Spitze.

Die Argumente der Friedensbewegung von damals sind heute noch genauso einfach und einleuchtend – und sie sind in höchstem Maße aktuell: Der Westen stand in der Schuld, eine umgekehrte Kubakrise ausgelöst zu haben, da die Vorwarnzeit für die Sowjetunion im Falle eines Erstschlags von Westeuropa aus auf wenige Minuten reduziert worden wäre. Dadurch war die Gefahr eines Atomkrieges und eines atomaren Holocaust erheblich gewachsen. Man sprach von einem drohenden „Euroshima“ – einem Atomkrieg in Europa.

Und heute? Die Grenzen Westeuropas sind weit nach Osten vorgerückt. Russland wurde und wird weiter eingekreist. Die Sicherheitsinteressen Russlands wurden und werden weiterhin ignoriert. Westeuropa und die USA rüsten sich selbst und die Ukraine mit neusten Waffen aus. Panzer, Langstrecken-Marschflugkörper, Kampfflugzeuge – das alles führt zu einer weiteren Eskalation des Konflikts in der Ukraine und dazu, „dass die Gefahr einer steiler werdenden Rutschbahn in einen offenen Krieg zwischen der Nato oder zunächst einzelnen Nato-Mitgliedsstaaten und Russland immer größer wird. Die roten Linien Moskaus werden mit jeder neuen militärischen Unterstützungsmaßnahme des Westens für die Ukraine Schritt für Schritt ‚ausgetestet‘.“ (Alexander Neu in der Berliner Zeitung, https://www.berliner-zeitung.de/open-source/ukraine-krieg-rechtliche-grauzone-wird-die-nato-durch-kampfjet-lieferungen-zur-kriegspartei-li.352578)



90 Sekunden bis Weltuntergang

Zwei Jahre nach Hiroshima und Nagasaki wurde die Doomsday Clock, die Weltuntergangsuhr, vom Bulletin of the Atomic Scientists (BAS) eingeführt, die das Bild von der Apokalypse (um Mitternacht) und der Zeit bis zum nuklearen Weltuntergang (Countdown bis Null) verwendet, um die Bedrohung der Menschheit und des Planeten zu verdeutlichen. Das BAS wurde 1945 von Albert Einstein und Wissenschaftlern der Universität von Chicago gegründet, die an der Entwicklung der ersten Atomwaffen im Rahmen des Manhattan-Projekts beteiligt waren. Die Weltuntergangsuhr wird jedes Jahr vom Wissenschafts- und Sicherheitsausschuss des BAS in Absprache mit dem Stiftungsrat, dem 10 Nobelpreisträger angehören, festgelegt. Seit Januar dieses Jahres steht sie bei 90 Sekunden. In ihrem Gründungsjahr am Beginn des Kalten Krieges stand sie bei sieben Minuten vor zwölf (https://thebulletin.org/doomsday-clock/Doomsday Uhr).

Die Internationale Ärztevereinigung IPPNW spricht sich gegen Atomwaffen, gegen Aufrüstung und für eine friedliche Welt aus, genauso wie viele andere Organisationen in der Welt. Mehr als 800.000 haben das Manifest für den Frieden von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterzeichnet. Die Mehrheit der Staaten dieser Welt sind gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, da diese den Krieg und das Leid nicht beenden werden, dazu gehören unter anderem China, Brasilien, Japan, Österreich, Schweiz, Ungarn, Bulgarien. (Nach aktuellen Recherchen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft IfW unterstützen nur 27 Staaten der Welt die Ukraine militärisch.)

Es gibt sie also auch heute, die Stimmen, die den Krieg verurteilen, die Entspannung und friedliche Koexistenz vertreten. Und Umfragen zeigen auch, dass entgegen allem medialen Kriegsgetöse und allen Verunglimpfungen als „Lumpenpazifisten“ oder „Putin-Trollen“ immer noch eine zaghafte Mehrheit in der Bevölkerung einen sofortigen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen und Abrüstung fordert.



Das historische Versagen der Linken

Man fragt sich unwillkürlich, warum es heute nicht gelingt, friedensbewegte Menschen zu Millionen auf die Straße zu bringen? Warum gelang das in den 80er Jahren in der Bundesrepublik? Wo ist heute die breite aktive Unterstützung in der Bevölkerung?

Und hier kommen wir zum historischen Versagen der demokratischen Parteien. Die einstmals als Friedenspartei gestarteten Grünen haben sich zu Olivgrünen gewandelt und derzeit befinden sich die schärfsten Kriegshetzer in ihren Reihen. Eine SPD, die einstmals mit Friedensnobelpreisträger Willy Brandt einen Vorreiter für die friedliche Koexistenz in Europa an ihrer Spitze hatte, setzt heute milliardenschwere Rüstungspläne um. CDU Blackrocker Merz spekuliert schon mal über ein Eingreifen der NATO in der Ukraine.

Und die Linke? Ein Bodo Ramelow, seines Zeichens Ministerpräsident und im vergangenen Jahr Bundesratspräsident, fordert Waffen für die Ukraine und lehnt rundweg eine Mitschuld der NATO an dem Konflikt ab. Die Linke konnte sich nicht einmal dazu verständigen, das Manifest für den Frieden zu unterstützen, im Gegenteil, die Parteispitze distanzierte sich indirekt davon. Diese Partei geht den Weg, den die Grünen schon vor ihr eingeschlagen haben, opportunistisch, korrumpiert, durchsetzt von machtbesoffenen Berufspolitikern. Diese Linke braucht niemand. Sie hat ihre historische Chance, sich an die Spitze der Friedensbewegung zu setzen, verspielt !


Mit Hurrageschrei auf der Bombe in die atomare Apokalypse
Mit Hurrageschrei auf der Bombe in die atomare Apokalypse

Vielleicht sehen sich unsere kriegsbewegten Politiker mal gemeinsam die bitterböse Satire aus dem Jahr 1964 des genialen Filmemachers Stanley Kubrick an. Sie setzt sich mit dem Wahnwitz des Wettrüstens und der möglichen Weltvernichtung auseinander und trägt den etwas sperrigen Film-Titel: „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“. Darin befiehlt ein paranoider US-General seinem Fluggeschwader einen Angriff auf die Sowjetunion. Nun ist der Film eine bis ins kleinste Detail ausgestatteten Farce, die alles und jeden parodiert: den US-Präsidenten im Krisenstab des Pentagon, den dazu geeilten sowjetischen Botschafter, eine codierte Kommunikation, die die Flugzeuge zurückrufen soll, aber eine Maschine nicht erreicht. Diese einzelne Maschine, der Pilot ist ein Texaner mit Cowboy-Hut statt Piloten-Haube, erreicht sein Ziel, doch die Abwurfvorrichtung der Atombombe klemmt. Wird die Menschheit noch gerettet? Da steigt der Texaner in den Bombenschacht, setzt sich auf die Atombombe und reitet im Sturzflug mit ihr in die Tiefe. In der Schluss-Szene des Kubrick-Streifens wachsen mit musikalischer Untermalung des populären britischen Kriegsschlagers „We‘ll meet again“ viele Dutzend Atompilze in den Himmel und vernichten die menschliche Zivilisation.

Nach diesem Paukenschlag konnte damals vor 60 Jahren das Publikum schockiert oder amüsiert, zumindest aber nachdenklich das Kino verlassen und frische Luft schnappen. Heute kann sich jeder bei Youtube diese respektlose Kriegssatire – deren Aufführung in den USA übrigens von scharfen Protesten des Militärs begleitet wurde - als kompletten Film für ein paar Euro zum Nachdenken über Krieg und Frieden im Atomzeitalter herunterladen.

Man kann nur hoffen, dass diese Farce nicht von den Politikern und Militärs in der Realität aufgeführt wird, sonst kommt das Nachdenken zu spät und der Spaß ist zu Ende.

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Von Wirklichkeit umzingelt

Warum sind politische Lügen so langlebig? Weil sie, wenn sie nur oft genug erzählt werden, zur Wahrheit werden.

bottom of page