top of page
  • Ronald Keusch

Eine gebotene Fortsetzung

Tamtam und Tabu von der Wendezeit bis zur Zeitenwende





Schlosspark Theater startet mit grandioser Premiere des Musicals „Sugar“ in die neue Saison

Anlässlich des Jubiläums 30 Jahre Deutsche Einheit vor knapp zwei Jahren hat das Autorenduo Daniela Dahn und Rainer Mausfeld sich ausführlich mit Tabus des Einigungsprozesses beschäftigt. Die Publizistin Dahn aus dem Osten und der Universitätsprofessor aus dem Westen nannten Ihr Buch „Tamtam und Tabu“. Denn ihrer Erfahrung nach werden tabuisierte Sachverhalte, also Fakten, die nicht gewusst, erkannt oder öffentlich gemacht werden sollen, häufig von undifferenzierten ständig wiederholten Pauken- und Trommelschlägen der Propaganda begleitet, eben Tamtam. Besonders im Fokus stand für die Autoren die Wahl im März 1990. Das Urgestein und Gewissen der SPD, Egon Bahr, bezeichnete den Wahlkampf von Bundeskanzler Kohl „als reinsten Psycho-Terror nach Goebbels-Manier“ (S.86). Auch mit weniger drastischen Wertungen wird dem Leser eine schier nicht enden wollende Auflistung von Wahl-Manipulationen geliefert, über die er sich ein eigenes Bild machen kann. Während nach heutiger gängiger Geschichtsschreibung die Volkskammerwahl im März 1990 die einzige gewesen sei, die demokratischen Grundsätzen entsprach, waren es, so lautet ein Resümee von Dahn, in Wahrheit Westwahlen auf dem Territorium der besetzten DDR und das Wort „demokratisch“ nicht zutreffend.

Diese Wahl liegt lange zurück und ist gelaufen. Die konservative Allianz erhielt 48,2 Prozent der Wählerstimmen. Es entstand eine große Koalition unter dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Die Wähler „wollten das Kapital und wählten die Kapitulation“, so hieß es. Nun könnte mancher meinen, warum über verschüttete Milch lamentieren, die Ereignisse liegen drei Jahrzehnte zurück. Dieser Meinung widersprechen die beiden Autoren ganz vehement. Sie haben wieder im Westend-Verlag im September 2022 eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage verfasst, in der sie die Methoden der Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur heutigen sogenannten "Zeitenwende“ entlarven.

Wobei die Autoren klar zum Ausdruck bringen, dass sie nicht nachträglich die deutsche Einheit in Frage stellen. Geblieben ist vielmehr eine vom Zeitgeist ungeliebte Frage: „Gab es (ohne die hier dokumentierten Halb- und Desinformationen, von richtigen Enthüllungen und falschen Versprechen, von Angstkampagnen und Zermürbungsstrategien) nicht einen bedachteren Weg zu einer Einheit, die insbesondere im Osten nicht derart katastrophale wirtschaftliche und mentale Schäden angerichtet hätte?“ (S. 41)

Die Journalistin und Schriftstellerin Dahn untersuchte weiter detailliert das konkrete Material rund um diese Wahl und empfand ein wachsendes Gefühl des Zorns und des Erschlagen-Seins. Der Leser wird eingeladen, an den höchst raffinierten Manipulations-Methoden und Spezialtechniken mit dem heutigen Wissen teilzuhaben. Unter der ironischen Kapitel-Überschrift „Volkslektüre – eine Presseschau“ werden nun ganz konkret - sogar überraschend für damalige Zeitzeugen und vielfach neu für die Nachgeborenen - die Presse-Enten und die große Pauke der Propaganda protokolliert. Nahezu eine Bombenwirkung hatte das Gerücht, dass der Berater von Bundeskanzler Kohl Horst Teltschik auf einer Panik-Pressekonferenz wenige Wochen vor der Wahl den Medien in den Block diktierte: Der drohende wirtschaftliche Kollaps zeichnet sich ab und die völlige Zahlungsunfähigkeit der DDR sei in den nächsten Tagen zu erwarten – eine ausweglose Situation. Deshalb würden erhebliche finanzielle Stabilitätshilfen benötigt (S. 87). „Bild“ titelte den nächsten Tag, „die DDR steht vor dem Zusammenbruch“. In Eilmeldungen jagten die großen Presseagenturen die Nachricht um die Welt. Einige, die es besser wussten, wie der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken Dr. Wolfgang Röller, gaben sofort Gegen-Pressekonferenzen und distanzierten sich von Teltschiks Aussagen, und auch alle Politiker aller ostdeutschen Parteien von Modrow bis de Maizière wiesen diese Darstellungen zurück, doch all diese Dementi fanden keine Beachtung in den Medien. Andererseits erhielt Außenminister Genscher den Part zugeschrieben, alle zu beruhigen mit den Worten: „Es wird keine Ausdehnung der NATO nach Osten geben.“

Schließlich widmet sich ein ganzes Kapitel der Währungsunion, die von den Autoren als „organisierte Verantwortungslosigkeit“ angesehen und in Zitaten von Wirtschafts- und Finanz-Experten als „ökonomische Atombombe“ bezeichnet wird (S. 120).

Für die Autorin Dahn hatte ein großer Teil der Bevölkerung der DDR im Jahr 1989 ein Veränderungsbedürfnis klar artikuliert und sich für einen besseren demokratisch reformierten Sozialismus ausgesprochen. „Ich wollte immer in einer Demokratie leben und niemals im Kapitalismus“, bekennt sie in ihrer Abrechnung mit der Einheit. Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute, so werden mit ihr bis heute eine wachsende Zahl ihrer Landsleute empfinden.

Als Korrektiv und Ergänzung haben die Ostdeutschen die Westmedien durchaus wahrgenommen. Man hatte gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen und auch das Nichterwähnte war eine Nachricht. „Was man weder gelernt noch erwartet hatte, war mit der Unseriosität der Boulevardpresse umzugehen, aber vor allem mit der Missachtung journalistischer Mindeststandards in den ‚Qualitätsmedien‘ “. Drastische Fake News waren in den DDR-Medien – auch dank eines Korrektivs von Westmedien - eher die Ausnahme (S. 167). All jene, die ungläubig mit dem Kopf schütteln oder nur skeptisch schmunzeln, können am Schluss des Buches auf knapp 20 Seiten in Faksimile einige der journalistischen Perlen aus der Wendezeit von „Bild“, „FAZ“ „Spiegel“ und anderen ausgiebig begutachten.

Für Co-Autor Mausfeld sind die Texte von Dahn „Pflichtlektüre für alle, die die Hintergründe der sogenannten Wiedervereinigung besser verstehen wollen.“ (S. 129) Dies ist der Einstieg für sein Buch-Kapitel „Wende wohin? Die Realität hinter der Rhetorik“, in dem er sich mit einer grundlegenden Kritik des Kapitalismus beschäftigt. (S. 128 ff.) Da finden sich dann einleuchtenden Thesen, zum Beispiel, wenn er vom Wesenskern der Demokratie, der Volkssouveränität schreibt: „…alle Machtstrukturen, die nicht demokratisch, also von unten legitimiert sind, sind illegitim und müssen beseitigt werden.“ (S. 135) Dann stellt er angesichts von Kriegen und Hungersnöten auch solche Fragen: „Warum sind wir so blind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltgewaltordnung?“ (S. 143) Bei diesen Ausführungen hat der Leser manchmal den Eindruck, in einer Vorlesung von Professor Mausfeld zu sitzen. Der mitunter dozierende Stil ist keine leichte Kost, bei manchen seiner wissenschaftlichen Argumentationen ist beim Leser einiges an Konzentration gefordert. Die Co-Autorin Dahn ist sehr froh, wie sie an einer Stelle im Buch bekennt, dass sie für ihre ausführliche Dokumentation der Wahlmanipulationen als wissenschaftliche Basis Professor Mausfeld an ihrer Seite hat.

Wie in ihrem Vorgängerbuch schließen sich insgesamt fünf Gesprächsrunden an, die in Form einer fortgesetzten Telefonkonferenz die politischen Geschehnisse der vergangenen 18 Monate bis zum Redaktionsschluss im August 2022 aktuell einbeziehen. Das signalisiert auch die Unterzeile des neuen Buches: „Meinungsmanipulation – von der Wendezeit bis zur Zeitenwende“. Die einzelnen Überschriften sind Programm: „Medien, Indoktrination und Demokratiemanagement“; „Wendevorgänge und manipulierte Geschichtsschreibung der DDR“; „Wissenschaft zwischen theoretischer Neugier und Herrschaftsmittel“; „Kapitalmacht und Wahlen“ sowie „Über die Hoffnung auf eine Wende, die den Namen verdient“.

Der Leser kann sich darauf freuen, wie erfrischend undogmatisch von der Publizistin und dem Wissenschaftler über das Thema eines Systemwechsels gesprochen wird. Ein Grund dafür besteht darin, dass die beiden Co-Autoren durchaus nicht immer einer Meinung sind. Der interessierte Leser findet hier nicht allein Aussagen auf den Gebieten Politik und Medien, sondern auch zum Wissenschaftsbetrieb mit solchen Fächern wie Ökonomie, Soziologie, Politologie und Sozialpsychologie, die weitgehend, so Mausfeld, durch US-Perspektiven dominiert seien. „Wer hier aus der Reihe tanzt, wird die strukturell etablierten, sozialen universitären Karrierefilter, die gerade wegen ihrer Unsichtbarkeit äußerst wirksam sind, nur mit geringer Wahrscheinlichkeit passieren können.“ Und ein Resümee von Professor Mausfeld lautet, besonders die Ökonomie ist „an den Universitäten zu einer ideologischen Monokultur und zu einer Art mathematisierter Wirtschaftstheologie verkommen“ (S.194).

Ein weiteres spannendes Gesprächsthema ist die Kategorie des Eigentums. Nur zum Privateigentum gibt es ein ganzes Bürgerliches Gesetzbuch. Zum Gemeineigentum, immerhin eine im Grundgesetz angebotene Option, gibt es null Gesetze und keine juristische Handhabe. Darüber soll und darf gar nicht erst nachgedacht werden. Besonders intransparent ist der Begriff des Öffentlichen Eigentums, der nach dem ehemaligen Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier eine „Leerstelle“ und ein „Etikettenschwindel“ darstelle (S. 197).

Und es geht lebhaft weiter im Dialog. Professor Mausfeld: „Wir alle sind eigentlich politisch irrelevant. Weil wir nämlich keine Eigentümer sind. Wenn es aber um politische Verantwortung geht, sind wir alle auf einmal wieder verantwortlich“ (S. 198). Viele Leser wird auch die Frage beschäftigen, inwieweit die Corona-Virus Politik die Demokratie beschädigt hat, mit Maßnahmen, die chaotisch, widersprüchlich und sachlich intransparent waren und noch sind. Auch dazu nehmen die Autoren Stellung.

Das brennendste Thema unserer Zeit haben Verlag und Autoren schon auf 20 Seiten an den Anfang des Buches gesetzt im Vorwort „Zur Einstimmung“ und dann mit der Überschrift: „Über die Zeitenwende seit Beginn des Ukrainekrieges“. Es ist ein riesengroßes Verdienst, von diesem ökonomischen Weltkrieg und militärischen Stellvertreterkrieg, in dem die USA und NATO längst zentrale aktive Kriegsteilnehmer sind, die Fakten zu diskutieren. Die Autoren können in ihrer Beschreibung dieses massiven Zivilisationsbruches wesentlich zur Meinungsbildung in Deutschland beitragen. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der Februar 2022, sondern das Jahr 1990, in dem die einzigartige Chance für eine Friedensordnung aus geopolitischen Interessen und denen der Kapitaleigner blockiert und verspielt wurden. Und die Autoren stellen die Frage: Warum war dies, entgegen den großen Hoffnungen der Bevölkerung so leicht? Und sie geben eine Antwort mit einem Zitat des schottischen Philosophen David Hume: Die Leichtigkeit, mit der eine kleine Minderheit von Besitzenden Macht über eine große Mehrheit von Nichtbesitzenden ausüben kann, gleiche einen „Wunderwerk“. Im Buch wird dieses Wunderwerk entschlüsselt, auch im Ukrainekonflikt. Hier hat die EU in einem historischen Ausmaß versagt und sie wird zu den großen Verlierern der Krise zählen. Sie hat die Krisenregie vollständig an die USA abgetreten und die Friedensordnung und den Wohlstand der Bürger den geopolitischen Zielen der USA untergeordnet (S. 14). Die für die damalige Wendezeit angewandte Betrachtungsmethode von Tamtam und Tabu bleibt aktuell: Was wird auch jetzt aufgebauscht und verschwiegen? Deutschland nutzt die Gelegenheit und befreit sich von seinen einstigen Befreiern. Der Wille, alle Bedenken fallen zu lassen, ist atemberaubend (S. 15). Diskutiert wird auch die grundlegende Frage, ob es überhaupt für Krieg eine Rechtfertigung gibt, denn es ist das schlimmste Verbrechen am Völkerrecht. Doch die ganze Nachkriegsgeschichte zeigt, dass dieses „schlimmste Verbrechen“ ohne allzu große Empörung in der Öffentlichkeit immer und immer wieder begangen werden konnte, solange es nur von den „Richtigen“ begangen wurde (S. 18). Aber jede Form von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist zu verurteilen. Erinnert wird in dem Gespräch auch daran, dass die Pläne für eine Osterweiterung der NATO bereits 1993 im Detail formuliert waren und es letztlich darum ging, dass sich Russland dem US-dominierten liberal-kapitalistischen Wirtschaftssystem unterzuordnen habe. Also ist der Keim für den Krieg von den USA schon lange vor der Präsidentschaft von Putin gelegt worden. In ihrem Buch zeigen Dahn und Mausfeld anhand von reichlich authentischen Dokumenten, wie es den Medien damals zur Wendezeit gelang, die öffentliche Meinung in der DDR in atemberaubend kurzer Zeit in eine Richtung zu wenden, die den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Westens entsprach. Auch beim Krieg in der Ukraine, so die Autoren, spielen die geostrategischen Interessen des Westens wieder eine dominierende Rolle. So ist es für Dahn und Mausfeld auch nicht überraschend, dass die großen Medien die Maske einer neutralen demokratischen Informationsvermittlung völlig fallengelassen haben. Ein solches Versagen geht an die Wurzeln der Demokratie, wenn Medien weitgehend von Kontrollorganen der Regierung zu PR-Organen der Regierung geworden sind. „Die Umdeutung von Information in Desinformationen durchzieht die gesamte Berichterstattung zur Ukraine seit Februar 2022 in geradezu hyper-orwellschem Ausmaß“, so ein weiteres Fazit von Professor Mausfeld (S. 34). Und Daniela Dahn mahnt resümierend, dass es dringend geboten sei, über ein friedliches Miteinander nachzudenken. „Je länger der Krieg dauert, desto mehr Besiegte“ (S. 38).

Nach den desillusionierenden Analysen, die auf 258 Seiten herunter prasseln, wollen die Autoren den Leser nicht in diesem perspektivlosen Regen stehen lassen. Sie nennen ihr abschließendes Kapitel: „Über die Hoffnung auf eine Wende, die den Namen verdient“ (S. 211). Hier treten Dahn/ Mausfeld keinesfalls als Heilsbringer und Alleswisser auf. Sie sortieren noch einmal, was der Kapitalismus von der sozialen Marktwirtschaft übriggelassen hat, erinnern an die globalen Finanzkrisen und diskutieren, ob der Kapitalismus ein umweltverträgliches Überleben der Menschheit ermöglich kann. Wahrlich kein Buch für den Duckmäuser, Opportunisten, Dogmatiker und Gesinnungsakrobaten, der sein Fähnchen nach dem Wind dreht.

Die nachdenklichen Schlusszeilen von Daniela Dahn lauten: „Wenn die Menschheit nach den Erfahrungen mit der Pandemie nicht umdenkt, müsste man ihr diese Fähigkeit wohl absprechen. Ein Schluss – wert, widerlegt zu werden.“



Buch: Daniela Dahn, Rainer Mausfeld; Tamtam und Tabu; Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur Zeitenwende.

Aktualisierte und erweiterte Neuauflage; Westend Verlag; Erhältlich im Handel ab 19.09.2022

bottom of page