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  • Ronald Keusch

Greeter aus Mulhouse lassen grüßen

Tourismus im Elsass erprobt neue Formen der persönlichen Betreuung ihrer Gäste




Place de la Réunion in Mulhouse mit dem Rathaus
Place de la Réunion in Mulhouse mit dem Rathaus


Ein freundlich lächelnder Mann tritt am Eingang meines Hotels in der Innenstadt von Mulhouse auf mich zu. Er hat mich sofort als Besucher aus Deutschland erkannt und schüttelt mir kräftig die Hand. „Ich bin Michel Wiederkehr, ihr Greeter. Und ich will ihnen meine Stadt zeigen“, sagt er in nahezu akzentfreiem Deutsch. Der 40jährige Michel ist hier im Süden von Elsass in Mulhouse geboren und als Lehrer in einer Grundschule tätig. Die Sonne eines späten Nachmittags im September hüllt die Fassaden der historischen Altstadt immer noch in einen hellen Glanz. Nicht weit vom Hotel hat Michel sein Auto geparkt und findet sogleich einen Weg durch das Labyrinth der Einbahnstraßen der Stadt.


Greeter Michel Wiederkehr
Greeter Michel Wiederkehr

Auf dem Aussichtturm Tour du Belvédère


Michel zeigt mir den Europaturm Tour de l‘Europe, der im Jahr 1972 mitten in der Stadt errichtet wurde. Der Turm ist das offizielle unübersehbare Wahrzeichen von Mulhouse. Sein dreieckiger Grundriss mit seinen drei Hausfassaden soll für das Dreiländereck stehen. Auf dem 105 Meter hohen Turm mit 33 Etagen ist auf seiner Spitze ein sich drehendes Restaurant eingerichtet, in dem sich der Besucher allerdings nur zum gediegenen Speisen platzieren darf. Doch das Ziel von Greeter Michel liegt etwas abseits von den etablierten Touristenpfaden in den Rebbergen über der Stadt.


Blick auf den Sendeturm Belvedere Mulhouse vom Tour du Belvedere
Blick auf den Sendeturm Belvedere Mulhouse vom Tour du Belvedere

Hier steht der Aussichtsturm Tour du Belvédère, der symbolhaft für die deutsch-französische Liaison in Elsass steht. Der Turm wurde auf dem 333 Meter hohen Belvédère im Jahr 1898 von einem deutschen Ingenieur in Stahlbauweise errichtet und ist in seiner Ausführung dem Pariser Eifelturm recht ähnlich. Wir klettern die 20 Meter hoch zur Aussichtsplattform des Turms. Vor uns liegen die Vogesen und der Schwarzwald mit Blick Richtung Freiburg. Gut zu erkennen ist auch das französische Kernkraftwerk Fessenheim. Es liegt nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Kürzlich versprach der neue französische Präsident Hollande, die 40 Jahre alte Atomanlage nach anhaltenden Protesten auf beiden Seiten der Grenze still zu legen.



Persönliche Sicht der Einheimischen


Mitunter werden neue Entwicklungen im Tourismus recht hastig als moderne Trends ausgerufen, obwohl nur Etiketten ausgetauscht wurden. Doch es ist unbestritten, dass das individuelle Urlaubserlebnis, fernab standardisierter Reiseprogramme, sich stetig im Vormarsch befindet. Die nicht selten langweiligen vorgefertigten Stadtführungen sind „out“, die persönlichen Sichten der Einheimischen dagegen sind „in“. Zu den unverwechselbaren Kennzeichen solcher innovativen Angebote zählen seit einigen Jahren die so genannten Greeter.

Das Fremdenverkehrsamt des elsässischen Mulhouse hat ein Greeter-Netz aufgebaut. Die Grundidee der Greeter ist in der heutigen Online-Epoche so einfach wie naheliegend. Über die Internetseite vom jeweiligen Tourismusbüro kann der Besucher mit dem Greeter, einem Bewohner von Mulhouse, Kontakt aufnehmen, sich verabreden und dann meist in einem Zeitrahmen von zwei Stunden mit ihm gemeinsam authentisch die Stadt näher kennenlernen. Der Stadtbummel mit einem Greeter ist für den Besucher kostenlos und der Greeter sollte, so die Regeln, auch weder Bezahlung noch ein Trinkgeld annehmen.


Tempel Saint-Etienne am Place de la Réunion Statue Le Schweissdissi von Frantz Beer - der Mann, der schwitzt


Denkmal für den schwitzenden Mann


Auf dem Weg vom Aussichtsturm zeigt mir Michel die seiner Meinung nach wirklichen Wahrzeichen seiner Heimatstadt. Schließlich sei diese Stadt Mulhouse jahrzehntelang geprägt von Industriebetrieben, von seinen Arbeitern und noch heute manchem Grauton, der auf den Häusern liegt. Es ist ein unscheinbares Denkmal mit dem Titel Le Schweissdissi, der Mann, der schwitzt. Die Statue eines wenig bekleideten jungen Mannes von dem in Florenz tätigen Künstler Frantz (Friedrich) Beer aus dem Jahr 1905 stand zunächst in der Mitte der Stadt auf dem Place de la Réunion, der damals noch Rathausplatz hieß. Er war von der damaligen sozialistischen Stadtverwaltung in Auftrag gegeben worden, die ein Sinnbild der Arbeit prominent in der Mitte der Stadt platzieren wollte.


Das Rathaus von Mulhouse
 Das Rathaus von Mulhouse

Das Denkmal wurde dann auch 1906 aufgestellt. Zwischen Rathaus und dem Tempel Saint-Etienne zierte es einen Brunnen, allerdings nur bis zum Jahr 1909. Da der Künstler die Rückseite der Figur gänzlich unbekleidet ließ, gab es auch moralische Proteste, man könne doch weder den hoch-wohlgeborenen Ratsherren noch den Kirchgängern den Anblick eines nackten Hintern zumuten. Als die Sozialisten bei der Wahl 1909 geschlagen wurden, hatte die neue Stadtverwaltung nichts Eiligeres zu tun, als die monumentale bronzene Figur in den Tivoli-Park an den Anfang des Villenviertels Rebberge zu verbannen, wo die Rückseite durch Gebüsch verdeckt wird. Dieser neue Standort in der Industrie- und Arbeiterstadt Mühlhausen/Mulhouse war aber auch nicht schlecht gewählt, so Lehrer Michel, weil der in Schweiß gebadete Mann der hier wohnenden Bourgeoisie jederzeit in Erinnerung ruft, wer ihren Reichtum angehäuft hat.



Skulptur Schweissdissi von Yves Carrey
Skulptur Schweissdissi von Yves Carrey

Der moderne Schweissdissi


Ein Pendant zum Schweissdissi von Beer steht am Place de l'Europe unweit vom Europaturm. Als der Künstler Yves Carrey 2006 von der Stadt den Auftrag erhielt, Skulpturen zu schaffen, fiel ihm die Wortgleichheit von „Schweiss“ – schwitzen – und Schweißen auf. Und er schweißte aus alten Werkzeugen und Materialien einer Recyclingfirma eine 2.50 Meter hohe Figur zusammen, einen sitzenden Arbeiter, der in die Ferne schaut. Die Sitzposition symbolisiert dabei die Arbeitslosigkeit, die mit dem Verschwinden der großen Industriebetriebe in Mulhouse einherging. Das Werk erscheint wie eine geniale zeitgenössische Variante von Beers Werk.


Geburtshaus von Dreyfus
Geburtshaus von Dreyfus

Auf diese Analogie angesprochen, soll Carrey bescheiden erwidert haben, dass das sich einfach so ergeben hat. Um hinzuzufügen, dass er bei der Schaffung dieser Statue auch ganz schön ins Schwitzen gekommen sei. Er war, wie es heißt, am Abend vor der Aufstellung noch bis um ein Uhr nachts mit Schweißarbeiten beschäftigt.



Das Geburtshaus von Hauptmann Dreyfus


Wir erreichen wieder das Rathaus im Zentrum von Mulhouse. Hier führt mich Michel zum Geburtshaus von dem Hauptmann Dreyfus, dessen Schicksal durch den Schriftsteller Zola in seinem berühmten offenen Brief „J`accuse“ (Ich klage an) weltweit Millionen Menschen berührte. Nur eine kleine unscheinbare Tafel an der Fassade erinnert daran, für Ortsfremde schwer zu finden.

Plakette am Geburtshaus von Dreyfus
Plakette am Geburtshaus von Dreyfus

Beim abendlichen Bier auf dem Place de la Réunion finden der Greeter Michel aus Mulhouse und der Besucher aus Berlin viele Gesprächsthemen und Michel ist besonders froh, dass er seine deutschen Sprachkenntnisse intensiv anwenden kann.

Mulhouse will und kann nicht mit den Schwergewichten an Kunst, Kultur und Geschichte der Städte Straßburg und Colmar in der Region konkurrieren. Allerdings besitzt die Stadt eine industrielle Tradition, die sich in europaweit einmaligen technischen Museen spiegelt. Und Michel hat eine dringende Empfehlung: Unbedingt ins Automuseum gehen, es bietet nicht nur für die Auto-Freaks eine faszinierende Vorstellung.


Abends auf dem Place de la Réunion
Abends auf dem Place de la Réunion



Das Auto-Paradies in Mulhouse


Michel hat völlig Recht mit seinem eindrücklichen Tipp. Niemand sollte die Stadt besuchen, ohne in das modern gestaltete Nationale Automobilmuseum hineinzuschauen. In dieser weltweit einmaligen Sammlung von rund 600 Autos werden die Stammväter wie Klassiker, Rennwagen wie Luxusautos perfekt inszeniert.


Eingang zum Auto-Museum Inszenierung der Autowelt

Allein die große Ausstellungshalle, in der die Autos auf 17.000 Quadratmetern nach Zeitperioden aufgereiht sind, wird mit 800 Straßenlaternen (!) verziert. Und der Fachmann wie der Laie kommen aus dem Staunen nicht heraus bei der Anhäufung von Superlativen. Das Elsass war und ist einer der wichtigsten Autobauer nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa.


Die riesige Ausstellungshalle mit Straßenlaternen
Die riesige Ausstellungshalle mit Straßenlaternen
Die Rennbahn im Museum
Die Rennbahn im Museum

Einen Beitrag dazu leistet auch der Wolfsburger VW Konzern, der an der Wirkungsstätte des legendären Konstrukteurs Ettore Bugatti in Molsheim seit 2005 ein Auto bauen lässt. Was heißt Auto, es ist der Bugatti Veyron von einem anderen Stern, das schnellste (400 km/h) das stärkste (1000 PS) und das teuerste (1,6 Millionen Euro) Straßenauto der Welt. Die geheimnisumwitterte produzierte Stückzahl soll bei 300 Exemplaren liegen - einer steht in der Ausstellung von Mulhouse.



Greeter Karine Tosch
Greeter Karine Tosch

Eine Fahrrad-Tour mit Karine


Die Ablösung von Michel kommt am nächsten Tag mit dem Auto, auf dem zwei Klapp-Fahrräder festgeschnallt sind, und heißt Karine Tosch. Sie habe, wie sie erzählt, ihr zweites Leben als Sprach-Lehrerin begonnen, nachdem die Pharmazeutin von dem Konzern Hoffmann-LaRoche nach 35-jähriger Tätigkeit entlassen wurde. Zu ihrem neuen Leben gehört seit einem Jahr auch, in ihrer Heimatstadt als Greeter aktiv zu sein.


Ihre Fahrradtour führt zu solchen Plätzen, die im Reiseführer entweder kurz oder gar nicht erwähnt werden wie das Quartier Fonderie, gebaut auf einer Industriebrache einer ehemaligen Gießerei. Die Gießerei wurde nicht abgerissen, sondern auch unter nachhaltigem Druck der Bevölkerung, zu einem sehr populären, multifunktionalen modernen Gebäude umgestaltet für Studenten der Universität, für Kulturveranstaltungen und Ausstellungen. „Es ist ein schönes Plädoyer für die Vergangenheit in der unserer Stadt“, so Karine Tosch.

Die Tour mit Karine führt weiter an einer schmalen Uferstraße. Hier stehen noch Mauern alter verfallener Fabrikgebäude, die erst vor einigen Monaten von der Stadtverwaltung einen blauen Farbuntergrund erhielten. Sie wurden nun zu einer eindrucksvollen Projektionsfläche für insgesamt 40 Sprayer. Leider ist wohl noch Farbe übriggeblieben und einige Graffitis verunstalten Fassaden von Häusern in der Stadt.


Die rekonstruierte alte Gießerei Der Garten der Düfte

Ganz versteckt gleich neben der alten Stadtmauer zeigt mir Karine Tosch einen Miniatur-Park, den Garten der Düfte, mit kleinen romantischen Wegen. Zum Abschluss präsentiert sie mir, wie sie sagt, einen Geheimtipp. Das ist nach ihrer Meinung das Restaurant „Zum Sauwadala“.


Das Restaurant „Zum Sauwadala”
Das Restaurant „Zum Sauwadala”

Hier werden deftige Spezialitäten der Region aufgetischt, allen voran elsässisches Sauerkraut mit Bergen von Schweinefleisch in Begleitung von Akkordeonmusik. Doch wenig erstaunlich, gerade dieser Tipp hat den Weg in deutsche Reiseführer bereits gefunden.




Der Erfolg der Greeter hat überrascht


„Im April letzten Jahres haben wir begonnen, erstmals Greeter in unserer Stadt einzusetzen. Und über den großen Erfolg sind wir sogar ein wenig überrascht worden“, bekennt Priscilla Thomas vom Touristenbüro Mulhouse.


Priscilla Thomas: „Greeter überraschender Erfolg”
Priscilla Thomas: „Greeter überraschender Erfolg”

Die Idee der Greeter wurde vor 20 Jahren in New York geboren und hat mittlerweile weltweit, übrigens auch in Berlin, schon Nachfolger.

In Mulhouse sind mittlerweile 28 Greeter im Einsatz, die sich auf bestimmte Themen wie Kultur, Architektur oder Familien mit Kindern spezialisiert haben. Insgesamt fanden 166 Begegnungen mit 395 Gästen statt. Da in Mulhouse fast einhundert unterschiedliche Nationalitäten zu Hause sind, gibt es beispielsweise auch zwei Greeter, Gloria und Carol, die aus Peru stammen.

„Wir verzeichnen in letzter Zeit eine schnell wachsende Zahl von Anfragen, auch aus der Region. Das ist auch ein Merkmal der neuen technischen Möglichkeiten des Kommunizierens“, bilanziert Priscilla vom Tourismus-Büro. „Und die vielen neugierigen Gäste wollen ja nicht nur Geld sparen, sondern suchen andere, neue Formen des touristischen Erlebnisses.“




Bildergalerie einiger Exponate des Nationalen Automobilmuseums


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