Stuttgart 21 - das goldene Begräbnis der Bahn
Die Zeit der Quarantäne ist Zeit für Bücher. Die Favoriten sind für viele Leser Kriminalromane und Thriller. Vor mehr als zehn Jahren startete Wolfgang Schorlau mit großem Erfolg eine Reihe von politischen Krimis, die mit realem Hintergrund im Lande spielen. Der große Erfolg dieser Bestseller mit dem Privatdetektiv Georg Dengler beruht darauf, dass der Leser gern in Spannung versetzt werden will über Verbrechen aus dem politischen Alltag im eigenen Land. Doch Krimi-Fans von Schorlau aufgemerkt: Es gibt noch eine Steigerung für ganz Hartgesottene zu den bisherigen Geschichten von Privatdetektiv Dengler, die einige seiner hochdramatischen Fälle fast auf das Level eines Kindergeburtstags herunterstufen. Der Thriller trägt den Titel "Schaden in der Oberleitung" aus dem Westend Verlag und ist ein Sachbuch über die vergangenen 25 Jahre der Deutschen Bahn. Der Ermittler ist der Journalist und Autor Arno Luik. Allerdings sind vor der Lektüre dieses Buches alle diejenigen zu warnen, die noch unbekümmert daran glauben, dass das Grundrecht und die Verfassung, demokratische Regeln und Normen von den herrschenden Entscheidern in unserem Land eingehalten werden. Wer allerdings nicht davor zurück schreckt, sich auf 292 Seiten zu gruseln und zu fürchten, sich mit dem recherchierenden Autor aufzuregen und immer mehr zu empören und zu entrüsten, der sollte dieses Buch unbedingt lesen und es weiter empfehlen.
Der Kriminalfall dieses Buches muss in seinem ersten Teil in Stuttgart beginnen, mit dem dortigen Bahn- und Immobilienprojekt Stuttgart S21, einem milliardenschweren "Mega-Unterfangen". Darin sollen knapp 60 Kilometer überwiegend unterirdische Strecken sowie ebenfalls unter der Erde vier Stationen mit einem neuen Hauptbahnhof entstehen. S21 ist längst zur Chiffre geworden für den strukturellen Irrsinn. Bahnmanager und Politiker wollen sich ein unfassbar teures Denkmal setzen "Auf Kosten des Bahnverkehrs. Auf Kosten der Bürger. Auf Kosten der Sicherheit, Auf Kosten der Umwelt." (S.12) Eigentlich ist damit der Fall schon gelöst, aber Detektiv Luik seziert das "Staatsverbrechen" ausführlich und liefert schier endlose Beweise dafür. Allein die abnorme Gleisneigung im geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof ist aus Sicherheitsgründen kriminell, so die Meinung vieler Eisenbahnexperten, die als Zeugen zu Wort kommen. Viele Brandschutzfragen mit den Fluchttunneln sind völlig ungeklärt und lassen sich zunächst nur durch dubiose Sondergenehmigungen notdürftig verschleiern. Das viele Jahre vor sich hin glimmende ungeklärte Brandschutzthema vom Flughafen BER in Berlin lässt grüßen. Aber die Beweiskette in dem Fall im Schwabenland wird schier endlos fortgesetzt. Auch der geplante Verkehrsknoten wird nicht funktionieren. Statt wie bisher im Kopfbahnhof 40 bis 50 Züge wird in der Tiefe nur etwas die Hälfte der Züge abgefertigt, Pendler müssen künftig am Stadtrand umsteigen. Der Detektiv Luik spricht von einem goldenen Begräbnis der Bahn, da auch die vorgesehenen Kosten von knapp vier Milliarden sich auf über acht Milliarden mehr als verdoppeln werden und das Ende der Fahnenstange ist immer noch nicht erreicht. Denn die geplante Eröffnung vor einem Jahr ist bislang auf den Dezember im Jahr 2025 (!) verschoben, ja, wenn denn weiter gebaut wird. Je mehr der Widerstand in Stuttgart und anderswo gegen S21 wächst, um so prominenter und lauter werden die Befürworter des Projektes.
Selbstverständlich gibt es in diesem Kriminalfall neben der überwiegenden Mehrheit von permanenten Opfern und Verlierern wie den Steuerzahlern und Bahnreisenden auch die Gegenseite. Da hat sich eine kleine Schar von permanenten Tätern und Gewinnern versammelt, also die Immobilienträumer, die Tunnelbohrer-Industrie und machtbewusste Politiker, um nur die wichtigsten zu nennen. Kanzlerin Angela Merkel machte S21 zur Chefinnensache, als sie im Herbst 2010 vor dem Bundestag erklärte , dass sich an S21 "die Zukunftsfähigkeit Deutschlands" entscheide. (S.14) Kleiner hat es die alternativlose und unausweichliche Kanzlerin scheinbar nicht. Mittlerweile ist der Leser dieses Thrillers erst auf der Seite 47 des Buches angelangt. Aber er stellt mit Entsetzen fest, dass allein zum Thema S21 noch weitere 50 Seiten folgen. Immer erdrückender wird die Beweislast. Alle Vorstände, Ministerien und das Kanzleramt wussten schon Jahre vor dem Baubeginn: Dieses Projekt ist verkehrlich wie finanziell nicht zu verantworten. Warum zieht niemand die Notbremse? Detektiv Luik versucht sich in Erklärungen. Derweil hat der Kriminalfall weitere haarsträubende Fortsetzungen. Dazu zählen das Kapitel mit den Weltmacht-Phantasien von Bahnchef Hartmut Mehdorn, den Luik als einen der unfähigsten Bahnchefs in der 185jährigen deutschen Bahngeschichte bezeichnet. Dazu gehören die Wende mit Ronald Pofalla, dem früheren Chef des Kanzleramts, der wohl wichtigste Lobbyist der Bahn. Pofalla durfte 2014 in sein Büro im 15. Stock der DB-Zentrale am Potsdamer Platz in den Bahnvorstand aufsteigen mit dem glamourösen Titel "Generalbevollmächtigter für politische und internationale Beziehungen". Und nicht vergessen werden dürfen die unfähigen Verkehrsminister. Die Verachtung und Überheblichkeit gegenüber der Öffentlichkeit setzt sich ungebremst fort. Im Unterschied zu den bisherigen Kriminalfällen sind allerdings die letzten Kapitel dieses Thrillers über die Deutsche Bahn noch nicht geschrieben und speziell S21 wird von Künstlern begleitet. https://www.nachdenkseiten.de/?cat=74. Aber wo sind die Staatsanwälte und Richter, die den Fall von Detektiv Arno Luik übernehmen, S21 endlich stoppen und die Täter anklagen?
Kommt nach dem Watergate, dem Dieselgate nun bald der S21gate?
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