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  • Claudia Keusch

Jubiläumsfestival am Gendarmenmarkt

Warum ich in diesem Jahr beim Classic Open Air mit Abwesenheit glänzen werde



Classic Open Air Festival auf dem Gendarmenmarkt in Berlin vor dem Konzerthaus im Jahr 2019 (© Davids)
Classic Open Air Festival auf dem Gendarmenmarkt in Berlin vor dem Konzerthaus im Jahr 2019

Classic Open Air lud am 16. Juni ins Hilton-Hotel am Gendarmenmarkt ein – zur Pressekonferenz für das Jubiläumsfestival. Mit Stolz geschwellter Brust stellten Festivaldirektor Gerhard Kämpfe und Geschäftsführer Mario Hempel das Programm für die Konzerte in diesem Jahr vor und zogen auch ein Resumé, von einem elanvollen Beginn 1992 bis zu der COVID-bedingten Zwangspause in den letzten zwei Jahren, die das gesamte Team in Kurzarbeit schickte.


Am 16. Juli 1992 fand das Eröffnungskonzert des ersten Classic Open Air mit dem Startenor José Carreras statt. Ihm folgten in den Folgejahren so illustre Künstler wie Montserrat Caballé, José Cura, Kurt Masur, Eva Lind, Roberto Alagna, Udo Jürgens, Peter Maffay, Ute Lemper oder Chris de Burgh. Eigentlich sollte das dreißigjährige Jubiläum ja schon im letzten Jahr zelebriert werden.


Jubiläums-Bildband
Jubiläums-Bildband

Nach dem Motto „Aufgeschoben ist nicht Aufgehoben“ nutzte Mario Hempel dann die Pause, einen auf Hochglanz-Fotopapier gedruckten Bildband der Geschichte von 30 Jahren Classic Open Air herauszugeben. Man kann ihn über die Classic Open Air Webseite für 12.50 EUR käuflich erwerben. ( https://30jahrecoa.de/produkt/30-jahre-coa/ )


In diesem Jahr erwartet vom 7. bis 11. Juli der Gendarmenmarkt jeden Abend 5.200 Besucher. Die Palette der Künstler reicht von Katherine Mehrling, Joja Wendt, Tom Gaebel, dem Ernst-Senff-Chor, den Berliner Symphonikern bis Howard Carpendale. Es war nicht leicht, das Event überhaupt wieder stattfinden zu lassen, wurde auf der Pressekonferenz festgestellt. Bei den Mitarbeitern gab es 30 bis 40 Prozent Kündigungen, dazu kamen 30 bis 40 prozentige Kostensteigerungen. Ohne die Sponsoren wie zum Beispiel die Wall-Gruppe, Radeberger, den Berliner Rundfunk oder die Spielbank Berlin wäre ein solches Festival nicht möglich, denn staatliche Unterstützung gab es für das Festival auf Grund der vielen Ausschlusskriterien nicht, wie Mario Hempel im Vorwort zum Festband erwähnt.


Das Internet vergisst nichts
Das Internet vergisst nichts

Auf der letzten Seite der Jubiläumsbroschüre ist auch noch das ursprüngliche Programm für 2022 abgedruckt, und da liest man – oh Wunder – als Abschlusskonzert „Eine Russische Sommernacht“ mit Meisterwerken von Tschaikowski, Rimski-Korsakow und Rachmaninow. Das wurde stillschweigend gecancelt – und darauf ging man auf der Pressekonferenz auch mit keinem Wort ein.


Hat nach den völkerrechtswidrigen Angriffen der USA und der verbündeten NATO-Länder auf den Irak, Syrien, Afghanistan, Libyen, Serbien irgendjemand je gefordert, George Gershwin aus den Konzertsälen zu verbannen? Hat irgendjemand Ernest Hemingway aus den Bücherregalen entfernt? Hat irgendjemand die berühmten amerikanischen Sängerinnen der Metropolitan-Oper in New York Renée Fleming oder Sondra Radvanovsky ausgeladen oder zu einem Auftrittsverzicht in Deutschland gedrängt? Absurde Idee? Ja, klar ! Genauso absurd wie die Cancel Culture, die hierzulande überschwappt. Und das reicht vom klammheimlichen Absetzen von Konzerten oder Theaterstücken bis zur öffentlichen und mit großem medialen Getöse untermalten Verdammung von Künstlern wie Valery Gergiev und Anna Netrebko. Wann kommen die ersten Bücherverbrennungen ? Entartete, weil russische Kunst ?


Es ist nicht nur absurd, was sich hier abspielt, es ist zutiefst schändlich und empörend. Es ist überall zu beobachten, wie die Russophobie um sich greift. Und immer sind unsere Mainstream-Medien an vorderster Front mit dabei, ob sie nun einem ukrainischen Botschafter für seine Hasstiraden eine Plattform bieten oder ob sie den um sich greifenden generellen Boykott russischer Sänger, Schriftsteller, Filmemacher, Wissenschaftler, Sportler usw. usw. geradezu feiern.


Festivaldirektor Gerhard Kämpfe (l.) und Geschäftsführer Mario Hempel
auf der Pressekonferenz (Foto: Ronald Keusch)
Festivaldirektor Gerhard Kämpfe (l.) und Geschäftsführer Mario Hempel  auf der Pressekonferenz

Keine Frage: Bei einer Russischen Sommernacht im Programm würde eine geifernde Medienmeute über das Festival herfallen, vielleicht würden einige Fanatiker mit Trillerpfeifen auftauchen, und unsere woken Aktivisten Ukraine-Flaggen hissen. Kann man es den Veranstaltern, die keinerlei staatliche Kulturförderung erhalten und die ohnehin in einer schwierigen finanziellen Lage sind, verübeln, dass sie sich dem nicht aussetzen wollen ? Verübeln vielleicht nicht, aber ich wünschte mir viel mehr Zivilcourage gerade bei unseren Kulturschaffenden, entschieden gegen die Cancel Culture aufzutreten. Vielleicht so wie ein Daniel Barenboim, der bei der Staatsoper Open Air-Veranstaltung am 19. Juni Tschaikowski’s Fünfte zur Aufführung brachte. Barenboim hatte auch schon die Courage, Wagner in Israel aufzuführen. Ich werde jedenfalls nicht dazu beitragen, diese Cancel Culture noch mit meinem Geld zu legitimieren. Bei aller Wertschätzung für den an die Stelle der ausgefallenen Russischen Sommernacht gerückten Andrej Hermlin mit seinem Swing Dance Orchestra.


Vielleicht muss ich im nächsten Urlaub wieder nach Sankt Petersburg fahren, um Valery Gergiev in „seinem“ Mariinsky Theater zu sehen, dem er seit 1996 als Direktor und künstlerischer Leiter vorsteht. Oder ich schaue mir im Archiv der Metropolitan Oper die unvergleichliche und berührende Aufführung von Tschaikowski’s Eugen Onegin aus dem Jahr 2007 an, mit Valery Gergiev als Dirigent, Dmitri Hvorostovsky in der Titelrolle und Renée Fleming als Tatjana – bevor sie auch diese weg-canceln.


Übrigens: Wer genau mitrechnet – dieses Jahr findet durch die zwei Ausfälle nicht das 30. sondern erst das 29. Festival auf dem Gendarmenmarkt statt. Aber vielleicht wurde Adam Riese ja auch schon gecancelt und wir haben es nur noch nicht mitbekommen.


Wegen zweijähriger Sanierungsarbeiten auf dem Gendarmenmarkt, die im August beginnen sollen, muss das Classic Open Air in den nächsten Jahren umziehen – der Bebelplatz oder der Lustgarten sind als Standorte im Gespräch. Es wird sich zeigen, ob es dann tatsächlich ein dreißigstes Festival geben wird. Vielleicht auch wieder mit einem Russischen Abend – dann wäre ich auch wieder mit dabei.

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