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Ingrid Müller-Mertens

Lebendig ist, wer wach bleibt

Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ an der Komischen Oper Berlin




Bühnenbild von Intolleranza 1960 - eine Eiswüste Foto: Barbara Braun/ Komische Oper
Bühnenbild von Intolleranza 1960 - eine Eiswüste


Gleißend weiß, kühl und erhaben eröffnet sich der Zuschauerraum der Komischen Oper Berlin in diesen Tagen. Endzeitstimmung und das bedrückende Gefühl klirrender Kälte greift sofort um sich. Man ist schockiert und fröstelt. Von der Bühne über das gesamte Parkett bis hinauf in die Ränge erstreckt sich eine arktische menschenfeindliche Eiswüste. Bedrohlich und doch auch wieder faszinierend in ihrer bizarren Schönheit.

Für die Eröffnung ihrer ersten Spielzeit als Intendanten nach dem Ende der Ära von Barrie Kosky – der vorerst letzten im Stammhaus an der Behrenstraße ehe das Gebäude generalsaniert wird – haben sich Susanne Moser und Philip Bröking einen gewaltigen Klassiker des politischen Musiktheaters vorgenommen: Luigi Nonos Intolleranza 1960. Man könnte es auch ein deutliches Statement nennen, für eine künftig konsequente kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Realitäten und Hinwendung zu neuen musikalischen Hörweisen.

Eine Inszenierung von immensem technischem und künstlerischem Aufwand und ein Musiktheater-Ereignis von einzigartiger Faszination und elementaren Kraft, der man sich nicht entziehen kann und will. Man gerät immer tiefer in den Sog der geradezu hypnotischen Klangwelt Nonos und einer Handlung, die heute noch immer oder leider wieder von beklemmender Aktualität ist.

Die Besucher sitzen im Parkett zwischen künstlichen Eisschollen, im 1.Rang, sowie umgeben von drapierten weißen Vorhängen und in ansteigenden Sitzreihen auf der Bühne. Das Orchester im zweiten Rang hinter einer weißen Stoffschneewand füllt den riesigen akustischen Raum mit großer Klangfülle, allein schon durch zusätzliche sechs Pauken und zwölf Schlagwerke.


Sean Panikkar als Emigrant Sean Panikkar und Gloria Rehm Fotos: Barbara Braun

Erzählt wird der Weg eines Gastarbeiters, der es trotz großer Widerstände schafft, die unerträgliche Situation seines Bergwerks zu verlassen. Auf dem Weg nach Hause begegnen ihm unterschiedlichste gesellschaftliche Missstände. Das italienische „Intolleranza“, als „Un-Erträglichkeit“ ist hier im Wortsinn zu verstehen, von der Niederschlagung politischer Aufstände über Verhör und Folter bis zur menschgemachten finalen Flutkatastrophe. Der Rückkehrer findet aber auch eine Gefährtin und mit ihr seine politische Überzeugung. Und selbst wenn beide in der Naturkatastrophe untergehen müssen, bleibt die Hoffnung auf jene, die nachfolgen.


Sean Panikkar, Deniz Uzun, Chor Foto: Barbara Braun

Der 1929 in Venedig geborene Luigi Nono verstand sich als komponierender Kommunist und nutzte die Kunst als Ausdrucksmittel seiner politischen Haltung – was beim konservativen Premierenpublikum bei der Venediger Biennale 1961 auf nur wenig Gegenliebe stieß. Das Werk provozierte und wurde von heftigen Protesten begleitet. Nonos Musiksprache ist der damals in Italien noch wenig bekannten seriellen Schule verpflichtet, doch handhabte er diese ebenso frei, wie der italienische Kommunismus die Lehre Lenins. Für Intolleranza 1960 griff Nono, auf Texte so unterschiedlicher Autoren wie Wladimir Majakowski, Paul Éluard, Jean-Paul Sartres oder Bertolt Brecht zurück. An der Komischen Oper Berlin erklingt das Werk in der deutschen Übersetzung von Alfred Andersch.

Regisseur Marco Štorman, Bühnenbildner Márton Ágh und Kostümbildnerin Sara Schwartz nehmen gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Gabriel Feltz Nonos Idee des allumfassenden Klangerlebnisses, die schon für die Uraufführung angestrebt wurde, auf. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne gänzlich aufheben. Im Zentrum aber steht der Einzelne, der ganz auf sich gestellt einen Weg zu und aus den „Unhaltbarkeiten“ dieser Welt finden muss und will. Sean Panikkar, der das Berliner Publikum schon in Barrie Koskys Inszenierung von Hans Werner Henzes The Bassarides als erotisch-urgewaltiger Dionysos begeisterte, verkörpert die Rolle des Gastarbeiters als inneren Kampf mit sich und den Verhältnissen.


Tijl Faveyts, Sean Panikkar, Chor Foto: Barbara Braun/ Komische Oper

Groß und ungelöst sind die Fragen, die Nono in seinem nur knapp eineinhalbstündigen Werk aufwirft. Doch in der Oper wie in Štormans Inszenierung wird klar, es bleibt nur eines: Die Herausforderungen mutig annehmen, nach bestem Wissen und Gewissen handeln und das Leben trotzdem – nein: gerade deswegen! – in all seinen Facetten feiern. „Lebendig ist, wer wach bleibt“ lauten die ersten Worte des Abends.

Ein Werk wie gemacht für den Auftakt eines neuen Kapitels in der Geschichte der Komischen Oper Berlin, ein Werk für den Aufbruch, das aufrütteln und ermutigen will. Am Ende gab es bei der Premiere viel Jubel und anhaltenden Beifall für Solisten, Chor, Orchester und Regieteam.



Text: Ingrid Müller-Mertens

Fotos: Barbara Braun / Komische Oper


Nächste Vorstellungen am 1. und 3. Oktober





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