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Ronald Keusch

Meinst du, die Russen wollen Krieg?

Über das Buch von Matthias Platzeck "Wir brauchen eine neue Ostpolitik - Russland als Partner"



Obwohl derzeit das Corona-Virus nahezu alle Diskussionen überlagert, existieren weiterhin andere ebenfalls das Leben bedrohende Themen. Dazu zählt die wie eine Seuche sich ausbreitende Politik des kalten Krieges in Europa. Diese Politik, verbunden mit einer erneut aufkommenden Russophobie, wird von den staatstragenden Medien in der westlichen Welt und vor allem in Deutschland wieder salonfähig gemacht. Um so wichtiger ist es, dagegen die Stimme zu erheben und ein Plädoyer für ein europäisches Haus zu halten, in dem auch Russland seinen Platz hat. Matthias Platzeck hat es gewagt, in den Ring der politischen Auseinandersetzung zu steigen mit einem Buch, dessen Titel sofort und knallhart seine politische Position und zugleich sein Programm zeigt: "Wir brauchen eine neue Ostpolitik - Russland als Partner".


Dieser für manchen Leser vielleicht etwas sperrig klingende Buchtitel bringt es auf den Punkt und signalisiert dem Leser, dass der Autor dafür sachlich und engagiert seine Fakten und Argumente präsentiert. Und auf der Rückseite des Buches steht sein zweites Credo: Kein Frieden ohne Russland. Der im Jahr 1953 in Potsdam geborene Platzeck kann auf eine sagenhafte politische Karriere zurückblicken. In der Umweltbewegung der DDR groß geworden, war er nach der Wende vier Jahre Oberbürgermeister von Potsdam und übte elf Jahre lang das Amt des Ministerpräsidenten von Brandenburg aus. Seit vielen Jahren ist er Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Seine Stimme kann niemand einfach so als Nebensächlichkeit wegwischen.


Um der Forderung nach einer neuen Ostpolitik Gewicht zu verleihen, unternimmt der Autor einen lehrreichen Parcours durch die jüngere deutsche Geschichte. Er beschreibt wichtige historische Meilensteine. Dazu zählen für ihn die Ostpolitik der 60er und 70er Jahre, auf das engste verbunden mit dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt und dem großen Strategen Egon Bahr. Dazu gehört das Jahr 1989 mit dem Fall der Mauer. "Der Kampf der Ideologien schien ein für alle mal beendet, die Frage von Krieg und Frieden in Europa endgültig entschieden." (S. 46) Platzeck erinnert aus ganz unmittelbarer Erfahrung daran, wie im Januar 1991 die größte militärische Operation begann, die jemals im Zeichen des Friedens stattgefunden hat. Die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte verlässt Deutschland mit sechs Armeen, über 545.000 Uniformierten, Zivilangestellten und Familien, 94.000 Kraftfahrzeugen, 12.000 Panzerwagen, 1.200 Flugzeugen und Hubschraubern. Und er blickt zurück auf die legendäre Rede, die der damals neue russische Präsident Wladimir Putin im September 2001 im Deutschen Bundestag hielt. Putin warb für eine Zusammenarbeit auf den Gebieten Wirtschaft, Kultur und Sicherheit mit Russland als gleichberechtigtem Partner der Europäischen Union. Am Ende seiner in deutscher Sprache gehaltenen Rede erhoben sich die Abgeordneten mit langanhaltendem Beifall von ihren Plätzen.


Platzeck erspart dem Leser durchaus nicht die Vielzahl von Konfliktsituationen in den letzten 20 Jahren, die vor allem durch die fortgesetzte Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze hervorgerufen wurden. Einen dramatischen Höhepunkt stellten die Ereignisse in der Ukraine im Jahr 2014 dar, die als europäische Revolution oder organisierter Regime-Wechsel weiterhin die politischen Schlagzeilen bestimmen. Der Autor bleibt sich und seinen politischen Zieheltern der so erfolgreichen früheren SPD-Ostpolitik treu und zitiert ausgiebig Egon Bahr, der vor Schülern 2013 sehr pointiert sagte:

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt."

Es ist einer der Kerngedanken in Platzecks Buch, auch anzuerkennen, dass Russland Interessen hat und dass auch Russlands Interessen legitime Interessen sind. Wobei diese Wahrheit eines politisch erfüllten Politikerlebens von Egon Bahr gleichwohl auch von den Lesern und Zuschauern der deutschen Medienwelt zu beherzigen ist, um sich auf dem mitunter unübersichtlichen politischen Gelände der Ostpolitik zurecht zu finden.


Der Buch-Titel ist natürlich zuallererst als ein Aufruf, ja als dringenden Appell zu verstehen - an die Bundesregierung, an die Parteien im Bundestag und natürlich an die Wähler, um von den Abgeordneten eine neue Ostpolitik einzufordern. Wie berechtigt so ein Appell ist, verraten nicht zuletzt die Reaktionen auf sein Buch aus den deutschen Leitmedien sowie sogar aus der eigenen Partei. Da wird in der Parteizeitung der SPD "Vorwärts" der Redenschreiber von SPD-Außenminister Maas Referent Simon Vaut bemüht, der als gebürtiger Hamburger bekanntlich Schlagzeilen produzierte, weil er Teile seiner Biografie für den Wahlkampf im Osten frei erfunden hatte. Vaut stellt zu Platzecks Buch fest: "Seine Ausführungen sind im Ergebnis die Verteidigung einer aggressiven Politik, die nie und nimmer in Einklang mit den Werten Willy Brandts steht."


Das Buch von Platzeck ist auch deshalb so authentisch, weil für den Autor auch die sowjetischen Soldaten mit ihren Angehörigen zur ostdeutschen Normalität gehörten, sie waren "Teil des Alltags" und "es gab immer Berührungspunkte, nicht nur vom DDR-Staat inszenierte, sondern auch private." Hinzu gekommen sei eine zivile Prägung durch die russische Kultur. Mit Begeisterung hat der junge Platzeck, wie er weiter schreibt, in den Siebziger Jahren sowjetische Filme gesehen wie "Leuchte, mein Stern, leuchte" von Alexander Mitta. So haben es die wiederkehrenden Feindbilder von Russland im Osten Deutschlands sehr schwer. Während viele Westdeutsche mit der Warnung "Der Russe steht vor der Tür" erschreckt werden können, bringt es die Mehrzahl der Ostdeutschen fertig, die Tür zu öffnen und zu einem Glas chaj (russisch Tee) einzuladen. Die derzeitigen SPD-Parteistrategen könnten auch mal darüber nachdenken, wer in der Außenpolitik wirklich das Erbe von Willy Brandt vertritt, der 1972 das beste Wahlergebnis für die SPD mit 45,8 Prozent erreichte. Sein Wahlsieg war auch ein Ergebnis der Ostpolitik.


Viele Ostdeutsche kennen noch die Zeilen des Gedichts von Jewgeni Jewtuschenko: Jeder in Deutschland sollte sie gerade heute wieder lesen und verinnerlichen.


Meinst du, die Russen wollen Krieg?

Befrag die Stille, die da schwieg

im weiten Feld, im Pappelhain,

Befrag die Birken an dem Rain.

Dort, wo er liegt in seinem Grab,

den russischen Soldaten frag!

Sein Sohn dir drauf Antwort gibt:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?

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