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Krieg gegen die multipolare Welt

  • Ronald Keusch
  • 16. Juli
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Juli

Über das Buch „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“ von Hauke Ritz



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Gibt es im heutigen Deutschland nur noch Kriegsschreihälse? Ist die Geschichtsvergessenheit weiter im Vormarsch? Zu einer objektiven Meinungsbildung zum wichtigsten Thema Krieg-Frieden tragen die Zeitungs-Kolumnisten und Fernseh-Talker der Mainstream-Medien so gut wie nichts bei. Also müssen einen Teil dieser Rolle die progressiven Verlage im Lande übernehmen. Im Westend Verlag ist im Mai das Buch „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“ von Hauke Ritz erschienen.

Der Autor ist promovierter Philosoph und untersucht in insgesamt zehn Essays die Hintergründe des Konflikts zwischen der westlichen Welt und Russland. Sein Schwerpunkt-Thema ist der nur selten beschriebene Grenzbereich zwischen Kultur- und Geopolitik.

In seinem Nachwort beschreibt Hauke Ritz, wie er, aufgewachsen in Niedersachsen, in den 80er Jahren die bedrückende Sorge der Erwachsenen vor einem möglichen Atomkrieg miterlebt hat. Umso erleichterter teilt er als Jugendlicher die Euphorie über das Ende des Kalten Krieges. Und umso sensibler reagierte er, als ab dem Jahr 2006/2007 der Rückfall in die Muster des Kalten Krieges einsetzte.

Hauke Ritz © privat

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Die Frage nach den Gründen für diese erneute Konfrontation mit Russland begleitete Hauke Ritz viele Jahre. Vor zehn Jahren begann er, die eigentlichen Ursachen auch in der kulturellen Dimension des Kalten Krieges zu suchen. Zu diesem Zweck lernte er russisch und bereiste Russland. Und es entstanden eine ganze Reihe von Büchern und diese Essays.

Bereits in den einleitenden Worten zum Buch von dem international hoch geschätzten Medien-Professor Michael Meyen werden die philosophisch politischen Texte von Hauke Ritz als Machtphilosophie jenseits der Universitäten eingeordnet. Eine normale akademische Karriere kam für Ritz nicht in Frage, wegen der Denkschablonen. Lieber ökonomisch unsicher, aber dafür geistig frei. Ritz präsentiert sich in seinen Aufsätzen als Autor, der „von links“ aufgebrochen ist und sich dort auch noch immer verortet, aber trotzdem für ein eher konservatives Wertesystem eintritt. Es braucht ein „Amalgam aus Restbeständen der ‚alten‘ Linken und dem christlich geprägten Teil des konservativen Lagers, um eine Entwicklung aufzuhalten und vielleicht sogar umzukehren, die in den Texten von Ritz das Etikett ‚Postmoderne‘ trägt.“ Wer es nicht mag, dass eine postmoderne Weltsicht Grenzen sprengt, Identitäten schleift, Traditionen vergisst, alle Werte umwertet, Transgender und Trans- oder sogar Posthumanistische Konzepte einführt (Stichwort „Verbesserung“ des Menschen), der findet in diesem Buch ein Reiseziel (S.10).

Der Titel des ersten Essays in diesem Buch lautet: „Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension?“ Während des Kalten Krieges hat sich im Westen eine neue Leitkultur entwickelt, die Ritz „Lifestylekultur“ nennt, „eine Kultur des Scheins, die keine Verbindung zu den existenziellen Lebenserfahrungen der Menschen besitzt“ (S.30). Als vermeintlicher „Sieger“ des Kalten Krieges ging der Westen selbstgefällig davon aus, dass sein Modell sich jetzt durch die Globalisierung über die ganze Welt verbreiten würde. Aus der Debatte über die Emanzipation der Frau wurden Genderstudies, kollektive Identitäten werden aufgelöst, Minderheitendiskurse treten an die Stelle von klassischen Freiheitsrechten wie das Recht auf Gewissensfreiheit oder das Recht auf Schutz der eigenen Privatsphäre.

Russland bestreitet dagegen diese postmoderne Weltsicht. Statt auf Individualrechte setzt die russische Kulturpolitik auf Familienrechte und hält an ihrem aus dem 19. Jahrhundert stammenden kulturellen Erbe fest. Und Russland steht mit seiner Kritik an der Postmoderne nicht allein. Auch im arabischen Kulturraum, im Iran, in China, in den osteuropäischen Ländern besinnt man sich auf die eigenen Traditionen, Kunst, Literatur, Sprache. Und Ritz fragt: „Wer hat nun recht? Ist Russland zurückgeblieben und altmodisch? … Oder ist es der Westen, der sich auf einem Irrweg befindet? … Hat sich der Westen vielleicht zu schnell für die postmodernen Werte entschieden, ohne zuvor offen zu diskutieren, ob diese Werte wirklich in der Lage sind, diejenigen der Moderne zu ersetzen?“ (S.26)

Im Essay „Die Krise des Westens: Chance für einen neuen Humanismus?“ urteilt Ritz über die so genannte Neue Linke: Sie „tauschte die Themen ihrer großen Geistesgeschichte gegen das Eintreten für neue Geschlechterrollen und politisch korrekte Rechtschreibeempfehlungen aus“ (S.39). „Dreißig Jahre nach dem Untergang des sozialistischen Weltsystems ist diese neue westliche Linke zu einem ideologischen Eckpfeiler des heutigen westlichen politischen Systems geworden“ (S.40). Und der Autor beklagt den Niedergang der zeitgenössischen westlichen Kunst: „Ignoranz und Zynismus sind zu neuen Normen geworden und scheinen als solche über aller Kritik zu stehen, während es zugleich in unserer Kultur üblich geworden ist, nichts mehr ernst zu nehmen und die Vorstellungen von Realität, Wahrheit und Sinn auf allen Ebenen des kulturellen Lebens gänzlich abzulehnen. … Deshalb ist eine Erneuerung der europäischen Kultur in der Tat eine Voraussetzung für jede positive Veränderung hinsichtlich des gegenwärtigen Verlaufs der Geschichte“ (S.42).

Die folgenden Essays beschäftigen sich mit der kulturellen Dimension des Kalten Krieges und 1968 sowie mit der Rückkehr der Geopolitik: Eine Ideologie und ihre fatalen Folgen. Hier kritisiert der Autor mit überzeugenden Argumenten, welchen großen Einfluss die Geopolitik auf die westliche Außenpolitik ausübt und welchen unheilvollen Beitrag dabei Sicherheitsexperten wie Zbigniew Brzezinski spielten.

Bei dem Thema „Der Krieg gegen die multipolare Welt“ beschreibt Ritz sehr anschaulich den Gegensatz von unipolarer und multipolarer Welt und den Krieg der westlichen Welt gegen die multipolare Welt. „Es ist nicht zu übersehen, dass sich die westliche Welt gegenüber Russland in einer Art Kriegsbegeisterung befindet. Jede Eskalation scheint fast automatisch die nächste nach sich zu ziehen“ (S.141). Dabei wurde Europa durch eine gleichermaßen deutsche, wie europäische Einigung mit der Möglichkeit einer dauerhaften, potenziell für Generationen gebauten Friedensordnung beschenkt. Doch das heutige Europa habe sich sehenden Auges dieses Geschenks als unwürdig erwiesen, so konstatiert der Autor. Und er erinnert daran, dass die Abtrennung der Ukraine von Russland ein altes Kriegsziel des deutschen Kaiserreiches im 1. Weltkrieg war. Im Rahmen von Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion, einem offenen rassenideologischen Vernichtungskrieg, wurde dieses Kriegsziel noch erweitert. Und es ist erst wenige Jahrzehnte her, dass in der alten Bundesrepublik, der DDR und auch im wiedervereinigten Deutschland es bei Kohl und Schröder noch einen Konsens gab, dass diese alten deutschen Kriegsziele verfehlt waren und ein zukünftiger Konflikt mit Russland um die Ukraine unbedingt verhindert werden müsse.

Hauke Ritz urteilt klar: „Dass dieses Selbstverständnis in den Amtszeiten von Merkel und Scholz seine unbedingte Geltung eingebüßt hat, stellt nichts weniger als eine geistig-moralische Katastrophe für unser Land und für ganz Europa dar“ (S.158). Und so fordert der Autor eine zweite Aufklärung nach dem Vorbild der ersten Aufklärung, welche die illegitime Macht des Klerus und des Adels infrage gestellt hat. Eine zweite Aufklärung müsste heute „die Macht der Medien infrage stellen und deren raffinierte psychologische Manipulationstechniken aufdecken. Und nach dem Vorbild der Kritik an Adel und monarchistischem Gottesgnadentum müsste heute über die Macht der Oligarchie und die zunehmend von Monopolen beherrschte Weltwirtschaft aufgeklärt werden“ (S.158).

Ein zentraler Dreh- und Angelpunkt in diesem aufklärerischen Buch ist für mich das hier veröffentlichte Interview, das der Investigativ-Journalist Paul Schreyer mit Hauke Ritz im Juli 2022 führte. Es trägt die Überschrift: „Massenformierung des Weltbewusstseins“. Darin geht es um die Entwicklung einer synthetischen Kultur und Russland als Quelle eines Gegenmodells, das globale Ausstrahlungskraft habe. Und so lautet ein Resümee: Unter westlichen Eliten herrsche „Angst vor dem intellektuellen und kulturellen Potenzial Russlands“, das man vielleicht sogar mehr fürchte, als seine Atomwaffen. Ritz lebte vom Februar bis zum Juni 2022 in Moskau, unterrichtete dort an der Universität und konnte sich aus erster Hand ein Bild von der russischen Gesellschaft und der Atmosphäre in der Stadt während der ersten Kriegsmonate machen.

Zu den vielen interessanten Aussagen im Interview zählt auch die Frage, warum Russland seine Strategie geändert hat, erst im Jahr 2022 und nicht schon Jahre zuvor? Es gibt die Mutmaßungen, dass möglicherweise Atomwaffen in der Ukraine stationiert werden sollten. Selenskyji hatte bei der Münchner Sicherheitskonferenz so etwas angedeutet, in dem er das Budapester Memorandum in Frage stellte (S.163). Die Perspektive für Russland wäre dann, „ein nuklearbewaffnetes Kleinrussland, das zudem eine antirussische Ideologie angenommen hat, direkt vor der eigenen Haustür zu haben“ (S.163).

Im Interview geht Hauke Ritz auf die tiefen Gemeinsamkeiten der russischen und deutschen Kultur ein, die heute kaum noch bekannt sind. „Es existierte für 150 bis 200 Jahre so etwas wie eine deutsch-russische Allianz, die erst mit der Entstehung eines deutschen Nationalstaates und dem Machtverlust Bismarcks an ihr Ende kam“ (S.175). Seit der Zeit Peter des Großen gab es große Einwanderungswellen Deutscher nach Russland, viele Deutsche standen im russischen Staatsdienst, Deutsche waren in Russland dreimal Kanzler, einmal sogar als Zarin (Katharina die Große) und unzählige Male als Minister tätig. Und es kommen auch andere historische Fakten zur Sprache, die bis in die Neuzeit reichen. Dazu gehört, dass Putin Anfang der 2000er Jahre der NATO ein Angebot gemacht hat und seine Bereitschaft erklärt hat, Mitglied der NATO zu werden, worauf von westlicher Seite allerdings nicht eingegangen wurde.

Im abschließenden Essay kommt der Autor noch einmal sehr direkt auf seinen Buchtitel zurück „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“. Eine erste Version dieses Essays entstand am 17. Februar 2023, dem Eröffnungstag der Sicherheitskonferenz in München. Der Autor geht zunächst auf das Schicksal von Deutschland ein, „immer wieder von Neuem im Zentrum von Weltkriegen zu stehen, ja diese sogar auszulösen“ (S.206). Das habe beim 30-jährigen Krieg (1618-1648) begonnen, setzte sich in den beiden Weltkriegen (1914-1918 und 1939-1945) bis hin zum Kalten Krieg (1947-1989) fort. Und heute stehe Deutschland wieder im Mittelpunkt der sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen den USA und Russland.

Mittlerweile sei es ein offenes Geheimnis, dass die Vereinigten Staaten die Ukraine als Stellvertreter benutze, um ihren „Erbfeind“ Russland zu schwächen. Erklärtes Ziel sei es, Russland zu „dekolonisieren“, also in mehrere Länder aufzuteilen. Dabei wird die gesamte Logistik der amerikanischen Militärunterstützung der Ukraine über deutsches Territorium abgewickelt, über deutsche Bahnlinien, Autobahnen, Hafenanlagen und Flugplätze. Von Wiesbaden aus organisieren die USA die militärische Unterstützung der Ukraine, in Deutschland gibt es wichtige Militärbasen wie Ramstein. „Kurz, ohne Deutschland wäre es für die USA gar nicht möglich, die Ukraine als kriegsführenden Stellvertreter für ihre Erbfeindschaft mit Moskau zu nutzen“ (S. 207). Und so das Fazit von Hauke Ritz: „Es gibt nur eine Grenze, die Washington in seiner Eskalationsbereitschaft Einhalt bieten könnte. Und das ist die Grenzlinie, die Berlin zieht!“ (S.209) Setzt die deutsche Regierung dagegen den Weg der stetigen Anpassung an den Willen Washingtons fort, dann wird der nächste Weltkrieg ein von Deutschland mit zu verantwortender Krieg sein. Wird Deutschland die Fähigkeit haben, sich in einer Vorkriegssituation zu bewähren? Und der Autor stellt die wichtige Frage: Wird Deutschland heute die USA mit einem unmissverständlichen, mit Maßnahmen und Taten unterlegten „Nein“ konfrontieren?

Im Nachwort, vom Autor im März 2025 verfasst, stellt er sich und den Lesern auch mit dem Hintergrund jüngster Entwicklungen noch einmal die Frage nach dem gewählten Buchtitel. Müsste es nicht viel mehr heißen, dass der Weltfrieden von den Großmächten USA, Russland und China abhängt?

Der Autor bringt seine Meinung und Hoffnung in den Schluss-Sätzen seines Buches zum Ausdruck. „Europa bleibt nur der Weg, sich als Friedensmacht zu erkennen und zu gestalten. … Und bei dieser Transformation Europas in eine große Schweiz könnte Deutschland als die größte europäische Wirtschaftsmacht in der Mitte Europas, die das Scheitern militärischer Ambitionen historisch mehrfach erfahren hat, eine für den gesamten Kontinent entscheidende Rolle spielen“ (S. 213).

Für alle Zweifler an der Kriegspropaganda, ob Lehrer oder Wissenschaftler, ob Eltern oder Großeltern, ist dieses Buch eine solide und seriöse Wissensbasis. 

 

 

Hauke Ritz

Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt

Westend Verlag

224 Seiten

Erscheinungstermin: 19. Mai 2025


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