Kann die Vernunft noch siegen?
- Ronald Keusch
- vor 7 Tagen
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Über das Buch „Mit Russland. Für einen Politikwechsel“ der Autoren Stefan Luft, Jan Opielka und Jürgen Wendler aus dem Westend Verlag

Angesichts der martialischen Kriegsrhetorik von Politikern und NATO-Militärs und der willfährigen Verbreitung dieser durch die Mainstream-Medien fragt man sich, ob wir aus den 80 Millionen Toten der beiden fürchterlichen Weltkriege des 20. Jahrhunderts nichts gelernt haben. Es wird militärisch und verbal aufgerüstet. Für Bundeskanzler Merz ist Deutschland „nicht mehr im Frieden“, für Außenminister Wadephul wird „Russland immer der Feind bleiben“, Verteidigungsminister Pistorius will die Wehrpflicht wieder einführen und der estnische Außenminister Tsahkna droht sogar, den Krieg nach Russland zu bringen. Überall wird die russische Gefahr gewittert, so dass der Haus-Satiriker der Berliner Zeitung André Mielke sogar eine Glosse mit der Überschrift veröffentlicht: „Klospülung kaputt? Ich kann keineswegs ausschließen, dass Russland schuld ist“. Wem bleibt da das Lachen nicht im Halse stecken.
Da erscheint der Buch-Titel „Mit Russland. Für einen Politikwechsel“ vom Westend Verlag im Juli dieses Jahres wie eine Botschaft von einem anderen Stern der Vernunft. Hier haben sich drei Autoren zusammengefunden, die als Historiker und Politikwissenschaftler begründen, dass ein weiterer großer Krieg kein unvermeidbares Schicksal ist und verhindert werden kann. Sie verdeutlichen, dass es absolut notwendig ist, gravierende Fehlentwicklungen auf der Basis verhängnisvoller Machtkonstellationen und der Hegemoniepolitik des Westens zu stoppen. Erst dann ist ein Politikwechsel machbar, der den eingeschlagenen Irrweg des Krieges verlässt.
Für das Vorwort zum Buch wurde Günter Verheugen gewonnen. Ein Analyst der Lage in Deutschland und Europa, der seine politische Erfahrung und anerkannte Kompetenz mit dem Mut zu klaren Bewertungen verbindet. Verheugen war ab 1999 EU-Kommissar und langjähriger Vizepräsident der Europäischen Kommission. Als SPD-Mitglied hat er im Vergleich zu den meisten Spitzenpolitikern seiner Partei eine äußerst kritische Haltung zur Russlandpolitik von Deutschland und der EU, die er auch nachdrücklich formuliert. Unabhängig davon, was in Moskau und Washington entschieden werde, so Verheugen, hätten wir uns als Deutsche und als Europäer die Frage zu stellen, wo wir jetzt eigentlich stehen und was unsere Verantwortung, unser Interesse und unsere mögliche Rolle ist. „Tun wir das, werden wir erkennen müssen, dass die Politik der EU und der meisten Mitgliedsstaaten einschließlich und sogar besonders Deutschlands sich vollkommen verrannt hat und dass die EU Gefahr läuft, von einer Randfigur zu einem ausgemusterten Dienstboten zu werden“ (S. 7).
Schon in diesem Vorwort bringt Verheugen den Konflikt in der Ukraine auf den wichtigsten Punkt. „Entscheidend war die Verweigerung einer ernsthaften und ehrlichen und daher sicher auch schmerzhaften Erforschung der tieferen Ursachen des Kriegsausbruchs…Diese Fragen beziehen sich im Kern immer auf denselben Punkt. Das alles überragende Streben Russlands nach Sicherheit für sein Territorium“ (S. 8). Zudem weist Verheugen darauf hin, dass in Artikel 1 des Vertrages, der die Existenz und den Zweck der NATO an die UN-Charta bindet, ausdrücklich auch die Konfliktbeilegung zur Friedensförderung genannt wird. Wissen das alle die flammenden NATO-Krieger in den Leitartikeln und Talkshows und die Leser und Zuschauer?
Nach dieser stimmungsvollen Einleitung können sich die Leser auf die Autoren Jürgen Wendler, Stefan Luft und Jan Opielka freuen, die die Überzeugung eint, dass vernünftige Antworten auf komplexe Fragen ein hohes Informationsniveau voraussetzen. Wenn es um Krieg und Frieden geht, dann wird Information zu einer Überlebensfrage. Und Informationen liefern die Autoren zu Hauf: Davon zeugen knapp 600 (!) hochkarätige internationale Quellen in ihren Texten. Für sie ist klar - im Unterschied zu der Mehrheit derzeitiger westlicher Politiker und ihrer Kriegspropagandisten in den Medien – dass „allein der Frieden ein für alle Menschen erstrebenswertes Ziel sein kann.“ Die Bewahrung des Friedens bedürfe Gespräche und den Gedankenaustausch und es verbietet sich die Praxis des Ausgrenzens, sei es von Russland oder irgendeinem anderen Land (S. 20).
Der Beitrag des Historikers und Wissenschaftsjournalisten Jürgen Wendler steht unter der Überschrift: „Der Westen am Scheideweg“. Hier lotet er aus, warum der Ukrainekrieg einen Höhepunkt fataler Fehlentwicklungen markiert. Meinungsfreiheit und -vielfalt, Freizügigkeit und Rechtsstaatlichkeit darf nicht allein eine Basis für wirtschaftliche Erfolge von westlichen Ländern darstellen, so Wendler, sondern hat auch ihre Attraktivität zu erhöhen, um sich besser in der multipolaren Welt zu behaupten. Deshalb fordert er, sich selbstkritisch mit der westlichen Identität auseinander zu setzen. Und er spannt den großen historischen Bogen von den Entdeckungsreisen von Kolumbus und Vasco da Gama bis zum aufkommenden Imperialismus. Dieser Exkurs führt dann schließlich in die Neuzeit zu den Zielen der US-Geo-Politik, die erklärtermaßen in einer Welt wachsender Machtkonkurrenzen ihre militärische Überlegenheit bewahren wollen, und das schließt ausdrücklich Kriege gegen sogenannte Schurkenstaaten ein, wobei die USA bestimmt, wer als Schurke anzusehen ist und wer nicht (S. 84).
Eine Menge interessanter Fakten und Zusammenhänge liefert das Kapitel seines Beitrags über „Wirtschaftliche Hintergründe des westlichen Umgangs mit der Ukraine und Russland“. Wer weiß beispielsweise, was für eine einzigartige Goldmine die Ukraine ist. „Allein die dort befindlichen und für moderne Hochtechnologien unverzichtbaren Mineralien hätten einen Wert von 10.000 bis 12.000 Milliarden US-Dollar“ (S. 90). Da gilt wieder einmal der Spruch: Folge der Spur des Geldes, wenn solche Rohstoff-Reichtümer Begehrlichkeiten wecken.
Weiter Wendler zum Thema: Völkerrecht und Doppelstandards: „Während im Falle der Verletzung der territorialen Unversehrtheit Jugoslawiens das Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner als ausschlaggebend erachtet wird, soll dieses Recht der russischsprachigen Bevölkerungsmehrheit auf der Krim abgesprochen werden“ (S. 112). Und ein Resümee des Autors lautet: Es ist unvermeidlich, dass Konflikte entstehen. Doch es gelte, Gemeinsamkeiten zu finden, Streit zu regeln und Kriege zu verhindern. Dazu könnte die Rückbesinnung auf den Geist und die detaillierten Ausführungen der UN-Charta hilfreich sein (S. 118).
Der Historiker Stefan Luft wählte für seinen Beitrag die provokative Überschrift „Die Heimatfront steht“, ergänzt mit der schrillen Unterzeile. „Deutschland auf dem Weg in den Krieg.“ Auch wenn sicherlich manchem Leser etwas mulmig wird, der Autor der Rezension schließt sich da nicht aus, sprechen die aufgelisteten Fakten ohne Wenn und Aber dafür. Und auch die ersten Zeilen von Autor Luft sind unmissverständlich: „Die Lage ist klar – zumindest nach Auffassung führender Militärs und weiter Teile der Politik in Deutschland: Russland ist der Feind. Sein Angriff hat schon begonnen.
Deutschland und Europa befinden sich deshalb nicht mehr im Frieden, sondern in einem Stadium zwischen Frieden und Spannungsfall.“ Und es ist leider ein Fakt, dass sich fast alle bis zur Wahl 2025 und danach im Bundestag vertretenen Parteien (außer der AfD, dem BSW und der Partei Die Linke) diesem Bedrohungs-Narrativ angeschlossen haben (S. 137).
Dann geht der Autor systematisch vor, um die mit einer Reihe von Fake-News zusammen gekleisterte Heimatfront näher zu beleuchten. Da wird der „Operationsplan Deutschland“ beschrieben, der die Kriegsmentalität fördern soll. Denn Kriegspolitik ist nur zu betreiben, wenn die Mehrheit in den Medien und der Bevölkerung den Kurs unterstützen oder zumindest hinnehmen (S. 138). Ein Kapitel widmet sich den politischen Akteuren im Bundestag. Für viele ältere Jahrgänge in Deutschland ist hier besonders erschütternd, dass sich die SPD im Kern von der Ost- und Entspannungspolitik abgewendet hat. „Die Militarisierung und Konfrontation gegenüber Russland, verkörpert durch den Verteidigungsminister Boris Pistorius, stellt das ausdrückliche Gegenteil dessen dar, wofür sozialdemokratische Ostpolitik über Jahrzehnte gestanden hat“ (S. 150).
An den Blick auf die politischen Akteure schließt sich die Sicht auf die gesellschaftlichen Akteure an. Da stehen an erster Stelle die etablierten Medien, die fast unisono für den NATO-Kurs trommeln. Was der deutsche Medienkonsument tagtäglich liest, hört und sieht, wird vom Autor mit fundierten Analysen hinreichend belegt. Da wird konform berichtet, Russland trage die alleinige Verantwortung für den Krieg, Waffenlieferungen seinen die einzige Lösung, Diplomatie werde nicht oder kaum wirken, Putin sei die Verkörperung des Bösen usw. (S. 165). Eine Form von Regierungspropaganda in Aktion ist auch das Verschweigen und Weglassen, beispielsweise der außenpolitischen Positionen der Oppositionspartei AfD, die für eine diplomatische Beendigung des Ukraine-Krieges eintritt, die sofortige Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie die Instandsetzung der Nord-Stream-Leitungen fordert und die „geplante Stationierung von weitreichenden US-Waffensystemen (Marschflugkörpern, Drohnen und Raketen) in Deutschland“ ablehnt. Solche Positionen werden vor der deutschen Öffentlichkeit sorgsam versteckt (S. 156).
Unter der Überschrift „Zügel anziehen“ wird vom Autor Stefan Luft berichtet, wie die Regierung Kritikern der Kriegspropaganda zu Leibe rücken will. Ganz still und ohne große Beratung wurde im Bundestag der Strafbestand der Volksverhetzung nach Paragraf 130 Strafgesetzbuch durchgewinkt. Bislang auf die Zeit des Nationalsozialismus bezogen, können nun auch Aussagen und Meinungen zum Ukrainekrieg belangt werden. Politische Auseinandersetzungen werden auf diese Weise kriminalisiert (S. 173).
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist die Aufrüstung ein Leitthema von Politik und Medien. Überall werden „klaffende Lücken“ in der Finanzierung von NATO und Bundeswehr beklagt. „Kritische Vergleiche dokumentieren allerdings, dass alleine der europäische Pfeiler der NATO über vielfach größere militärische Kapazitäten verfügt als Russland. Die Behauptungen der NATO, Russland werde innerhalb von fünf bis acht Jahren die militärischen Fähigkeiten so weit ausgebaut haben, dass sie der NATO ebenbürtig seien, entbehrt jeder Grundlage“ (S. 184).
Die deutsche und die US-Regierung kündigten am Rande des NATO-Gipfels in Washington im Juli 2024 an, in Deutschland weitreichende Waffensysteme zu stationieren, gemeint waren Raketen modernsten Typs (Tomahawks und Hyperschallwaffen). Eine öffentliche Debatte fand dazu nicht statt. Es bestätigt sich die Überschrift des Beitrages: Die Heimatfront steht.
Einen gelungenen Schlusspunkt wird in dem dritten Beitrag des Buches von dem in Polen gebürtigen Politikwissenschaftler, Anglist und Journalist Jan Opielka gesetzt. Unter dem Titel „Mittelosteuropa: Brücke oder Festung?“ macht er anhand historischer Erfahrungen deutlich, worin die Gründe für die kritische Haltung der mittelosteuropäischen Länder gegenüber Russland liegen. Zugleich zeigt er anschaulich, wie die fehlende Sicht auf die Schattenseiten des Westens und ein Stück Naivität gegenüber den USA zum Schaden in diesen Ländern und in ganz Europa führen kann. Spannend sind die Aussagen von Jan Opielka im Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen der Visegrad-Gruppe, der Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn angehören. Man denke nur an die Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit seiner kritischen Position zur EU und dem jüngsten Wahlsieg in Tschechien von Andrej Babis, der ähnliche Positionen wie Orbán hat.
Das Fazit von Opielka lautet: „Der Westen, angeführt von dem weiten, einst wilden Westen, hat sich nach Osten hin überdehnt. Deshalb brach in der Ukraine der Krieg aus. Die mittelosteuropäischen Staaten … müssen sich, ebenso wie der Rest Europas, weiterentwickeln und politisch emanzipieren, wenn sie nicht selbst und erneut Schauplatz eines Krieges werden wollen“ (S. 299).
In jedem Fall ist dieses Buch der drei Historiker und Politikwissenschaftler mit dem Vorwort von Günter Verheugen ein Ärgernis für alle Kriegstreiber – gut so. Es ist auch ein Buch der Ermutigung und Bestätigung für all jene, die sich aktiv für eine Verständigung mit Russland einsetzen und für Friedenslösungen kämpfen – noch besser. Es ist vielleicht nicht zuletzt ein Buch, das alle Menschen anspricht und neugierig macht, die mehr Fakten und Zusammenhänge rund um den de-facto-Krieg der NATO gegen Russland erfahren wollen – das ist dringlichst notwendig. Aber es wäre zu schön, um wahr zu sein, dass die Wahrheiten des Buches eine große Zahl in der deutschen Bevölkerung erreicht – leider. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.
Mit Russland: Für einen Politikwechsel
von Stefan Luft, Jan Opielka und Jürgen Wendler mit einem Vorwort von Günter Verheugen
Westend Verlag. Taschenbuch
Erschienen am 21. Juli 2025