Ein Aufruf zum globalen Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation
"Rebellion oder Untergang!" dieser dringende, ja geradezu zwingende Titel eines kleinen Bändchens ist noch mit einem Ausrufezeichen versehen und trägt die erklärende Unterzeile: "Ein Aufruf zum globalen Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation". Mit diesem Appell müsste auch der letzte Zeitgenosse aufgeschreckt werden, der seit einem Jahr täglich in den Medien mit den alles dominierenden Katastrophenmeldungen zum Corona Virus traktiert wird, der besten Ablenkung von den wirklich drängenden Themen unserer Zeit.
Der Autor von Titel und Buch ist kein geringerer als Noam Chomsky, emeritierter Professor für Linguistik und einer der international bekanntesten linken Intellektuellen. Chomsky hat sich mit seiner Arbeit am berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und mit seiner scharfen Kritik der US amerikanischen Außenpolitik seit den 60er Jahren weltweit einen Namen gemacht. Er gehört zu den meistzitierten Autoren unserer Zeit und erhielt unzählige Ehrendoktorwürden und Auszeichnungen, sowohl für seine wissenschaftlichen als auch seine Arbeiten als politischer Analyst und Medienkritiker. Der Westend-Verlag mit dem Übersetzer Michael Schiffmann hat jetzt Ende Januar einige seiner wichtigsten Texte zur rechten Zeit herausgebracht. Das Buch zeigt die tatsächlichen großen Gefahren unserer Welt: die Verschärfung der Klimakrise und die Gefahr eines Atomkrieges, wobei beide Gefahren einhergehen mit der Aushöhlung demokratischer Prozesse in den westlichen Ländern.
Insgesamt verfügt das 120 Seiten Bändchen nach einer Einführung über fünf Kapitel. Darin sind öffentliche Vorträge von Chomsky, gehalten in den USA aus der Jahr 2016 und 2019 aufgeführt, ein Gespräch dazu mit dem Weggefährten Wallace Shawn, bekannt als Dramatiker und Schauspieler und dazu wurden zusätzlich Fragen aus dem Auditorium und Chomskys Antworten protokolliert. Den Schlusspunkt setzt ein aktuelles Interview, das Noam Chomsky den Herausgebern am 16. Dezember 2020 gab, also nach dem Wahlsieg von Joe Biden über Donald Trump.
Das jüngste Zeitgeschehen scheint von spektakulären Ereignissen dominiert, wie der kurzzeitigen Besetzung des kaum bewachten US-Capitols in Washington durch wütende Demonstranten oder der scheinbar endlosen Geschichte um den russischen Oppositionellen Nawalny, die dem Publikum von den internationalen Geheimdiensten und den angeschlossenen Medienhäusern nimmermüde erzählt wird. Chomsky gelingt es, den Blick auf die grundlegenden Konflikte der Welt frei zu legen. Er erinnert an das Datum des 6. August 1945, den Tag des Atombombenabwurfs auf die japanische Großstadt Hiroshima. Damit sei der mögliche Untergang der menschlichen Spezies angezeigt worden.
"Und an diesem Tage wurde klar, dass die menschliche Intelligenz die Mittel ersonnen hatte, dem 200.000 Jahre alten menschlichen Experiment ein Ende zu machen."
Und er führt fort, dass die Geschichte der "Beinahe-Desaster" erschreckend sei.
"Es ist fast ein Wunder, dass es in den letzten 70 Jahren noch nicht zur Katastrophe gekommen ist und wir uns keineswegs darauf verlassen können, dass sich dieses Wunder weiter fortsetzt" (S.19).
Die Menschheit ist ins Atomzeitalter eingetreten. "Entweder wir sorgen für sein Ende oder es wird sehr wahrscheinlich für unser Ende sorgen." Und Chomsky ist einer, der bei der Ursache für diese Hauptgefahr Klartext spricht: "Der wichtigste potentielle Herd eines Atomkrieges befindet sich heute an der russischen Grenze." Und bei der Aufrüstung auf beiden Seiten nennt er explizit den Plan vom damaligen US-Präsidenten Obama zur Bereitstellung von einer Billion Dollar für die Modernisierung des US-Nuklearwaffensystems durch neue Atomwaffen, Marschflugkörper und Atomsprengköpfe. Von letzteren weiß man, so Chomsky weiter, dass sie besonders gefährlich sind, weil damit auch Kurzstreckenwaffen aufgerüstet werden können. Das bedeutet, dass selbst für Offiziere auf einem kleinen Schlachtfeld die Versuchung besteht, sie auch einzusetzen, was dann rasch zu einem umfassenden Nuklearkrieg eskalieren könnte (S.34ff.). Und so lautet ein Fazit des Buches:
Die heutige Mission der NATO besteht in der Bewältigung von Gefahren, die durch ihre Existenz überhaupt erst erzeugt werden.
Und manchen gerade jüngeren Lesern wird es überraschen, wenn der erfahrene Alt-Linke den Kampf gegen eine Leugnung des Klimawandels und eine destruktive Klimapolitik logisch verbindet mit dem Kampf für atomfreie Zonen auf der Erde und für eine Abrüstungspolitik, die ihren Namen verdient. Eine Frage, die nicht nur an Greta Thunberg, Luisa Neubauer und ihre Anhängerschar zu stellen ist.
Schließlich liefert Noam Chomsky im abschließenden aktuellen Interview auch Erkenntnisse und gewissermaßen Nachhilfeunterricht für deutsche Medien über die globale Aushöhlung der Demokratie im Besonderen in den USA. Warum wurden die Präsidentenwahlen für die Demokraten mit ihrem Kandidaten Biden nach vier Jahren Trump-Herrschaft nicht zum erwarteten Spaziergang? Und er kommt zu dem Fazit, dass dieses Wahlergebnis ein totales Desaster darstellt.
Schockierend ist für politische Beobachter, dass Joe Biden als eine der ersten Amtshandlungen beabsichtigt, Victoria Nuland als Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten in sein Regierungsteam zu holen. Diese Funktion hatte sie schon zu Zeiten von Präsident Obama. Sie steht für eine auf Konfrontation stehende Außenpolitik besonders gegen Russland. Nuland erwarb sich durch ihr Auftreten auf dem Maidan in Kiew und ihre Unterstützung des Putsches gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine und durch den Satz eines abgehörten Telefonats "Fuck the EU" eine zweifelhafte Bekanntheit (s. nachdenkseiten: https://www.nachdenkseiten.de/?p=68942 ).
Die Partei der Demokraten wurde zur Partei der reichen Freiberufler und der Wallstreet, der "Clinton-Demokratie". Und die USA verformte sich zu einer von Großunternehmen beherrschten Gesellschaft, in der selbst elementarste Bedingungen für soziale Gerechtigkeit, anderswo selbstverständlich, höchstens rudimentär vorhanden sind (S. 92ff). Etwa 90 Prozent der Bevölkerung in den USA werden durch Abgeordnete repräsentiert, deren erste Aufgabe es offensichtlich sei, zu den Spendern zu gehen und bei diesen dafür zu sorgen, dass sie ihnen auch den nächsten Wahlkampf finanzieren. Das führe dann zu einem undemokratischen System, in dem nicht der Wähler, sondern Bürokraten zusammen mit den Banken die wichtigsten Entscheidungen treffen (S.113ff.). Die EU-Gremien und ihr Zustandekommen lassen schön grüßen.
Bei den Lehren aus dieser gefährlichen Situation kann Chomsky nur sehr zurückhaltend optimistisch sein. Alle Probleme, denen wir gegenüberstehen, sind international und kennen keine Grenzen, Kriegsgefahr, Erderwärmung, und auch die Zerstörung der Demokratie hat leider einen ansteckenden Charakter. Chomsky setzt große Hoffnungen auf die Progressive Internationale, eine Organisation, die 2020 gegründet wurde mit dem Zweck, progressive politische Kräfte weltweit unter einer gemeinsamen Vision zu vereinen. Sie traf sich im September 2020 zu ihrer ersten großen Konferenz in Island. Chomsky hielt dort eine wegweisende programmatische Rede mit dem Titel "Internationalismus oder Untergang".
Das Buch ist eine Fundgrube für weitere Literatur und Quellen. Noam Chomsky ist ein glaubwürdiger Zeuge für differenziertes politisches Denken eines Linken. Er zeigt eine konsequente und eindeutige Haltung, und damit das, was heute sehr viele der sich links gebenden Intelligenzija und Künstlerbranche schmerzlich vermissen lassen. Für all diejenigen, die sich gegenwärtig durch die Autoren der Nachdenkseiten.de, durch das TAZ-Urgestein Mathias Broeckers (broeckers.de) oder durch den unbequemen Linken 68er Uli Gellermann (rationalgalerie.de) bereits gut informiert sehen, wird das neue Buch von Chomsky eine Bereicherung sein. Aber auch für alle anderen, die sich nicht mehr allein von den staatlichen Einheitsmedien indoktrinieren lassen wollen.
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