Im Endspielmodus
- Ronald Keusch
- vor 3 Tagen
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Aktualisiert: vor 2 Tagen
Über das Buch „Hegemonie oder Untergang: Die letzte Krise des Westens?“ von Rainer Mausfeld

Der Autorenname Rainer Mausfeld lässt viele an Zeitgeschichte interessierte Leser aufhorchen. Der emeritierte Professor für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung mit einem Lehrstuhl an der Universität Kiel ist mit seinen Bestsellern „Warum schweigen die Lämmer“ (2018) sowie „TamTam und Tabu“ gemeinsam mit Daniela Dahn (2020 und 2022) in guter Erinnerung geblieben. Denn er liefert mit intellektueller Tiefe und Klarheit eine scharfe kritische Analyse des politischen Systems und der systemstabilisierenden Massenmedien, die eine objektive Berichterstattung erfolgreich verhindern. Sein neues Buch kann aktueller nicht sein. Es trägt den Titel „Hegemonie oder Untergang“, versehen mit der provokanten Frage als Unterzeile „Die letzte Krise des Westens?“. Es ist im Oktober dieses Jahres im Westend Verlag erschienen.
Selbst der an Politik wenig oder sogar gar nicht interessierte Zeitgenosse hierzulande kann die „Erschütterungen“, die Autor Mausfeld in seiner Einleitung beschreibt, nicht übersehen: „Krisen und Kriege scheinen immer dichter aufeinander zu folgen. Eine Zeit besonderer Krisenhaftigkeit des politischen Ordnungsgefüges scheint angebrochen zu sein.“ Dieser Zustand geht dann einher mit dem Gefühl, in der eigenen Lebenssituation einer zunehmenden Bedrohung ausgesetzt zu sein. In seinen einleitenden Sätzen widmet sich der Autor einem der zentralen Themen: „Es geht also um Demokratie und um den heute systematisch betriebenen Abbau mühsam gewonnener demokratischer Errungenschaften. Und es geht, im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent, um den planmäßig und beharrlich vorangetriebenen Übergang zu neuartigen Formen totalitärer Herrschaft“.
Wobei die heutige gesellschaftliche Krise nicht eine Krise der Demokratie an sich ist, denn eine Demokratie, die diese Bezeichnung dem Wortsinne nach verdient, gibt es in unserer Epoche nicht. Es gibt bei uns keine „radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine strikte vertikale Gewaltenteilung und eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität der gesellschaftlichen Basis“. Es existiert vielmehr nur eine Demokratiesimulation, eine demokratische Maske zugunsten autoritärer Herrschaftsformen. Schließlich werden bereits in der Einleitung einige Themen genannt, in denen die Krise und die Widersprüche des Westens besonders sichtbar werden: Im US-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine und im Krieg gegen den Iran sowie in den Machtkämpfen in den USA selbst, aus denen Donald Trump als vorläufiger Sieger hervorging. Schon in seiner Einleitung signalisiert Professor Mausfeld seinen Lesern, dass sein Buch ganz konkret mit überzeugenden Beispielen auf die Hegemonie wie auch auf den Niedergang des Westens eingeht und Erkenntnisgewinn verspricht.
In insgesamt sieben Kapiteln wird die westliche Welt vom Autor unter die Lupe genommen und eindrucksvoll geschildert, wie der Planet Erde „verwestlicht“ werden sollte. Ein historischer Diskurs führt im Kapitel „Der ‚Westen‘ und seine Welt“ in die Methoden des Westens aus der Zeit des frühen Kolonialismus. Eine Quelle zu dem Umgang mit den „Anderen“ beschreibt, dass sich die Erdbevölkerung im Jahre 1500 auf etwa 400 Millionen beläuft, wovon 80 Millionen in Amerika lebten. Mitte des 16. Jahrhundert verbleiben von diesen 80 Millionen noch zehn. Und Mausfeld zitiert den Autor Tzvetan Todorov: „Wenn das Wort Völkermord jemals wirklich zutreffend verwandt worden ist, dann zweifellos in diesen Fall…Keines der großen Massaker des 20. Jahrhunderts kann mit diesem Blutbad verglichen werden“.
Übrigens haben sich diese Verbrechen der Kolonialisierung bisher noch nicht bis zu den Redenschreibern vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeyer herumgesprochen. Bei einem Staatsbankett am 26. November dieses Jahres in Madrid sagte Steinmeyer in einer Lobpreisung auf Christoph Kolumbus den Satz: „Spaniens Entdecker knüpften Verbindungen zwischen den Kontinenten. Sie zeichneten die Landkarten neu und zeigten, dass Neugier und Wagemut Horizonte öffnen können.“ Ohne dabei auf den Genozid einzugehen, der mit der Entdeckung Amerikas mit zig Millionen Toten einherging. (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2025/11/251126-StB-Spanien-Staatsbankett.html)
Die blutigen Spuren des Westens werden vom Autor bis in die Neuzeit verfolgt. Ein Beispiel sind die von den USA mittels UN-Sicherheitsrat von 1990 bis 2003 gegen den Irak verhängten Wirtschaftssanktionen, die bis heute eine der schlimmsten humanitären Katastrophen verursachten. Durch Unterernährung und Wasser-, Sanitär-, und Impfstoffmangel starben nach UN-Berichten mindestens 500.000 Kinder unter fünf Jahren. Als die damalige US-Botschafterin Madeleine Albright in einem Interview angesprochen wurde, ob es den Preis wert gewesen sei, dass durch diese Sanktionen mehr Kinder getötet wurden als in Hiroshima, antwortete sie: „Es ist diesen Preis wert.“ Dazu der Mausfeld Kommentar: „Diese wenigen Worte geben der zur erbarmungslosen Grausamkeit gesteigerten Menschenverachtung, die für die Gewalt des Westens kennzeichnend ist, symbolischen Ausdruck“.
Ein Haupt-Thema von Professor Mausfeld behandelt das Fachgebiet seiner Forschungen: Wie politische Ideologien, Machtstrukturen und psychologische Techniken öffentliche Meinung und Demokratie beeinflussen. Speziell widmet sich diesem Komplex das Kapitel „Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein“. Der Einstieg dazu ist die Erkenntnis und Erfahrung, dass für die Mächtigen in der Gesellschaft die ideologische Macht gegenüber physischer Macht und roher Gewalt den Vorteil habe, kostgengünstiger und tiefenwirksamer zu sein. Mit der Wirkung der Massenmedien könne sogar eine grenzenlose Reichweite entfaltet werden. Allerdings ist der Mensch von Natur aus mit einer Art psychischem Immunsystem gegen das „Manipuliertwerden“ und gegen eine Fremdbestimmung ausgestattet. „Damit also ideologische Macht möglichst wirksam werden kann, muss sie so beschaffen sein, dass sie als Ideologie, also als eine Manipulation, gar nicht mehr erkennbar ist. Sie muss gleichsam unsichtbar sein“.
Mittlerweile sind die Methoden der Manipulation so perfektioniert, so die Einschätzung von Mausfeld, dass ein großer Teil der Bevölkerung des Westens überzeugt ist, in einem System zu leben, das im Großen und Ganzen frei von Propaganda und Indoktrination ist. Es werde ein ideologisches Gewölbe errichtet und gezielt gesellschaftliche Pseudorealitäten geschaffen. Vor allem in diesem Kapitel findet der Leser eine Fülle von Fakten und Argumentationen zu dem Manipulationssystem, dem er alltäglich immer wieder ausgesetzt ist – fachkundig fundiert zur geistigen Selbsthilfe.
An verschiedenen Stellen des Buches beschreibt Mausfeld auch die ins Maßlose gesteigerte Bereitwilligkeit der meinungsbildenden journalistischen Klasse, sich der autoritären staatlichen Macht anzudienen und sich vollends in den Dienst hegemonialer US-Interessen zu stellen. Diese „Medien-Intellektuellen“ sind zu Claqueuren der militärischen Konfrontation oder gar zu deren Anheizern geworden. Und der Autor registriert, dass eine Überflutung mit Belanglosem und Ablenkung durch Nichtigkeiten die Leute davon abhält, ihre soziale und politische Lage zu erkennen.
In den einzelnen Buch-Kapiteln werden unter verschiedenen Sichten eine Vielzahl von Fakten und Zusammenhänge zum Ukraine-Krieg geliefert. Im Kapitel „Der Westen und seine Feinde – Bausteine westlicher Ideologie zur Verdeckung organisierter Gewalt“ stehen die Methoden im Mittelpunkt, die Feindbilder produzieren und systematisch Angst und Hass erzeugen. Dazu gehört auch Umschreiben bzw. Fälschen der Geschichte und schließlich der durch die NATO provozierte russische Angriff auf die Ukraine. „Vom ersten Tag an wurde er in allen großen Medien durch rigorose Ausblendung seiner Vorgeschichte kontrafaktisch mit dem Attribut ‚unprovoziert‘ versehen. Tatsächlich war er, wie geschichtswissenschaftlich sorgfältig dokumentiert ist, aus geopolitischen Hegemonialinteressen systematisch von den USA und der NATO provoziert worden“.
Die große Stärke des Buches ist die Analyse des westlichen Systems, das sich nach Mausfeld im Endspielmodus befindet. Der Begriff, so erklärt der Autor, stammt aus dem Schach, „wo er die finale Phase bezeichnet, in der kaum noch Optionen offenstehen. Im übertragenen Sinn bezeichnet er in der Gesellschaftstheorie den finalen Zerfallszustand eines Systems, in dem die relevanten Akteure über keine rationale Handlungsplanung mehr verfügen. Sie sind im Endspielmodus kopfloser und zunehmend panischer Versuche, ihre Macht zu bewahren“. Wem fällt da nicht sofort der derzeitige deutsche Bundeskanzler- Darsteller mit seinem Umfeld ein.
Die Überschrift des letzten Kapitels „Hat das emanzipatorische Projekt einer Zivilisierung der Gewalt heute noch eine Chance?“ weckt beim Leser große Erwartungen. Und der Autor bringt noch einmal viele Beispiele, wie der Westen nach und nach die in der Zivilisationsgeschichte mühsam gewonnenen Institutionen für eine gewaltfreie Bewältigung von Konflikten korrumpiert und sie in Instrumente zur Durchsetzung seiner hegemonialen Ansprüche verwandelt hat: Ob das die Wahloligarchie ökonomischer und politischer Eliten ist, „bei der zentrale Bereiche der Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entzogen sind“ oder ob das die Institutionen der UNO sind, die ursprünglich den egalitären Anspruch der völkerrechtlichen Gleichheit hatten und die ebenfalls in Instrumente zur Sicherung der Macht des Stärkeren umgewandelt wurden. Das wird uns heute schonungslos durch das Verbrechen des Völkermords an den Palästinensern vor Augen geführt, begleitet von dem Verbrechen des Schweigens der Öffentlichkeit westlicher Länder.
Mausfeld beklagt zu Recht, dass in einer entsolidarisierten Gesellschaft auch die Ansätze von Protestbewegungen politisch unwirksam bleiben, ungeachtet des persönlichen Einsatzes Einzelner, oftmals gegen den Widerstand und die politische Apathie eines Großteils der Bevölkerung. Wenn es allerdings um Handlungsempfehlungen geht, dann bleibt der Autor merkwürdig vage: „Vordringliche Aufgabe ist es, … die gegenwärtige individualistische Atomisierung der Gesellschaft zu überwinden und wieder neue institutionelle Organisationsformen zu finden, um dadurch Spielraum für ein kollektives Handeln zu gewinnen.“ So lässt er den Leser auch am Schluss etwas ratlos zurück.
Nichtdestotrotz: Rainer Mausfeld hat es mit diesem Buch erneut geschafft, zur derzeitigen gesellschaftlichen Diskussion einen gehörigen Paukenschlag zu setzen. Es sollte deshalb niemanden ernsthaft verwundern, dass über dieses Buch bislang nur wenige Buchbesprechungen zu registrieren sind. Die Auseinandersetzung, Diskussion oder Information über die Argumente von Professor Mausfeld finden in den Mainstream-Medien bislang nicht statt. Das Totschweigen scheint ihre einzige Präferenz gegenüber klugen kritischen Texten zu sein. Diejenigen, die sich immer weniger in eine Welt der Pseudorealitäten einsperren lassen wollen, wird dieses Buch bestärken und ermutigen.
Rainer Mausfeld
Hegemonie oder Untergang: Die letzte Krise des Westens?
Westend Verlag
216 Seiten
Erschienen am 13. Oktober 2025
Rezension des Buches „Tamtam und Tabu“ von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld und seiner aktualisierten und erweiterten Neuauflage sind hier zu finden:




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