Ein Acht-Tages-Streifzug in eine faszinierende Region an der Oder mit Bernd Siegmund
Flüsse sind seit jeher Lebensadern für die Menschen und die Landschaften entlang der Flüsse begehrter Boden und sehenswerte Schönheiten. In der Rangliste der längsten Flüsse im Land steht die Oder mit der Warthe an der vierten Stelle. Obwohl die Oder auch Schönheit und Kraft nicht vermissen lässt, muss sie im Vergleich mit dem Rhein und den berühmten Zeilen von Heine über die Loreley ohne nennenswerten poetischen Beistand auskommen. Das stellt der Buchautor und Journalist Bernd Siegmund in dem neu erschienenen Reiseführer „Das Oderbruch entdecken“ aus dem be.bra-Verlag fest, um von dieser faszinierenden Region ein unterhaltendes, stets informatives journalistisches Porträt zu zeichnen. Der bekannte Reisejournalist Siegmund hat dazu seinen Theodor Fontane gelesen. Und für alle, die im Brandenburgischen unterwegs sind und in die Geschichte und Geschichten von Land und Leute eintauchen wollen, ist Fontane wohl der beste, immer empfehlenswerte Wegbegleiter.
„Im Gegensatz zum Beinbruch tut das Oderbruch nicht weh. Das kleine Stückchen Erde an der Grenze zu Polen hat alles, was es braucht, um schön zu sein. Flüsse und Täler, Wiesen und Wälder, Blumen, Seen, Tiere, einen weiten Himmel, Kirchen, Dörfer und Städte, nette Menschen, Deiche, Wind und Berge. Ja auch die.“ So lauten die ersten Sätze im Buch. Mit der ungewöhnlichen und persönlich gehaltenen Einführung auf den zwei Dutzend einleitenden Seiten des Reisebuches musste sich – wie es heißt – die Lektorin des Buches erst anfreunden. Eine amüsante Erklärung für das Wort „Oderbruch“ liefert der Autor gleich mit: Die Bedeutung des Wortes Bruch kommt aus dem Mittelhochdeutschen „Bruoch“ und bedeutet Sumpfland. Also „Das Sumpfland, das Oderbruch“ – alles klar (S.11).
Natur ganz nah erleben an der Alten Oder bei Wriezen
In der Einleitung hat der Autor auch ausreichend Platz eingeräumt, um den Leser auf den Landstrich mit 60 Kilometer Länge und bis 20 Kilometer Breite einzustimmen, der etwa ein Drittel des Landkreises Märkisch-Oderland einnimmt. Eine Hauptrolle spielen dabei die Eiszeit und die Endmoränen, die mit ihren „Findlingen“ aus Brandenburg ein „steinreiches Land“ machten. Neben anheimelnden Naturbeschreibungen, es gibt im Oderbruch 138 Vogelarten und jedes Dorf hat seinen „privaten Storch“, wird auch der große Geschichtsbogen um den Deichbau, die Trockenlegung sumpfigen Landes und die Ansiedlung von Kolonisten aus nah und fern in der Mitte des 18. Jahrhunderts unter Friedrich II. gezogen. Friedrich II. teilte bis auf zehn sogenannte „Herrenwiesen“ das gesamte ihm gehörende Land auf die Kolonisten auf. „Insgesamt dauerte die Besiedlung 15 Jahre. Dann war das Oderbruch voll bewohnt … Die Politik Friedrichs hat die Menschen verändert. Sie waren plötzlich für sich selbst verantwortlich. Es gab keinen Gutsherren mehr, für den sie arbeiten mussten. … Bis heute gilt die Trockenlegung der Oder als gelungene bevölkerungs-strategische Operation. Und als eine technische Glanzleistung“ (S. 16/ 17).
Die Kirche in Neutornow an der Alten Oder
Das Ergebnis kann sich im Oderbruch sehen lassen. Es ist nicht allein für Touristen interessant, auch die heutige Einwanderungspolitik könnte durchaus mal einen Blick in die Geschichtsbücher werfen.
Um dem Leser auf den 170 Buchseiten das Oderbruch besser zu erschließen, überlegte sich der Autor ein sehr sinnvolles Ordnungsprinzip. Von Norden nach Süden teilte er die Landmasse in vier Abschnitte und ordnete die Städte von oben nach unten. Dann konzipierte er insgesamt acht große Abschnitte, die er lesefreundlich umschrieb als „In 8 Tagen durch den Oderbruch“. Doch schon beim zweiten Tag deckt der Autor dank seiner umfangreichen Recherchen selbst auf, dass dieses Ordnungsprinzip nicht wörtlich zu nehmen ist. An nur einem Tag ist beim besten Willen selbst bei bester körperlicher und geistiger Fitness all das Sehenswerte nicht zu besuchen und zu bestaunen.
Auf jeden Fall kann sich der interessierte Leser auf 144 spannende Seiten und sehr solide professionale Fotoqualität freuen.
Schiffshebewerk in Niederfinow
Die Tour durch das Oderbruch startet am 1. Tag in dem kleinen Ort Niederfinow, der durch seinen Fahrstuhl für Schiffe große Bekanntheit erreicht hat. Das im Jahr 1934 erbaute Schiffshebewerk, es verzeichnet jährlich 200.000 Besucher, ist das älteste noch arbeitende technische Denkmal in Deutschland. Ein neuer Nachfolgebau im eleganten Beton-Design steht schon bereit. Auf Hintergrundinformationen zu dem beträchtlich angewachsenen zeitlichen Verzug und die Ursachen hat der Autor verzichtet. Er liefert schon ausreichend Spannung bei der Schilderung des 52 Meter hohen Schiffshebewerkes mit seiner genialen ingenieurtechnischen Konstruktion. Nach Inbetriebnahme des neuen Schiffshebewerkes soll sich das alte künftig vollkommen dem Tourismus widmen. Auch heute noch nach knapp 90 Jahren ist es beeindruckend zu sehen, wie der Höhenunterschied von 36 Metern hier im Oder-Havel-Kanal überwunden wird (S.33).
Dermaßen spektakulär in das Oderbruch eingeführt, wird das „älteste Dorf“ Brandenburgs Hohensaaten beschrieben, 1258 erstmals urkundlich erwähnt, ein schöner Ort mit viel Wasser drumherum. Und gleich dazu wird der bis zur Wende 1990 in Berlin unbekannte Ort Hohenwutzen in das Kapitel aufgenommen. Seit mehr als 30 Jahren fahren dreimal täglich mit dem Shuttle-Bus Tagestouristen aus Berlin nach Niederwutzen Osinow Dolny zu einem Polenmarkt mit 700 Ständen, Tankstelle und Frisör. Und der Autor hat sogar noch einen heißen Tipp für einen Besuch in Cedynia, einst Zehden, nur sechs Kilometer entfernt, in einem restaurierten Kloster, heute vier Sterne Hotel mit einem wunderbaren Restaurant (S.47).
Auch die folgenden weiteren sieben Tage in der Region zeichnen sich durch eine Melange aus, die historische Fakten, Landschaftsnatur-Beschreibungen und heutige Sehenswürdigkeiten beinhaltet. Da steht am 2. Tag die älteste Kurstadt Brandenburgs Bad Freienwalde im Mittelpunkt. Sie erlebte eine glorreiche Zeit als Mode-Bad des Brandenburger Adels mit Histörchen über den Großen Kurfürsten und seine Gattin Friederike Luise. Immerhin hat das Ehepaar durch Aufträge an die Baumeister und Architekten Langhans und Gilly mit dem Logier- und Badehaus sowie dem Landhaus der Königin den Nachfahren und Touristen sehr Sehenswertes hinterlassen. So mancher Besucher mag erwarten, dass Bad Freienwalde seit dem 19. Jahrhundert schon Rheumakranke in Moorbädern behandelte und sich 2003 den Titel anerkanntes Moorheilbad verleihen ließ. Aber hier im „flachen Brandenburg“ soll es seit knapp 100 Jahren einen Wintersportverein mit Rodeln, Eislauf und Skilanglauf geben! Der Autor hat ihn entdeckt und sogar eine Skisprungschanze. Und wenn der Winter ausbleibt? Wozu gibt es Matten, heißt es in Bad Freienwalde.
Der Lebensbrunnen auf dem Marktplatz in Wriezen
Es macht Spaß, mit dem Plauderer und Geschichtenerzähler weitere Ausflüge in die Region zu unternehmen. Da ist der Marktplatz von Wriezen mit einem Denkmal, das für großen Ärger und deutschlandweite Schlagzeilen sorgte. Im Mittelpunkt steht ein großer nackter Teufel aus Bronze mit einem Goldstück in der Hand, der frech sein Hinterteil der Ruine von St. Marien entgegen reckt und in seinem Umfeld neben teuflischer Geldgier andere menschliche Schwächen offenbart. Erst eine Volksbefragung rettete das Denkmal (S. 75).
Für Anglerfreunde wird die berühmte Zunft der Hechtreißer erklärt, deren Tradition sogar bis Anfang des 18. Jahrhunderts zurück reicht (S.82). Und da gibt es eine Geschichte über eine Fähre der Güstebieser Loose zwischen dem polnischen und deutschen Ufer, die Oder ist hier 160 Meter breit. Für manches muss das Happy End noch warten, registriert der Autor (S.92). Anders in dem kleinen Ort Zollbrücke das „Theater am Rand“. Hier agieren der Akkordeonspieler Tobias Morgenstern und der Schauspieler Thomas Rühmann (Fernsehserie „In aller Freundschaft“) seit mehr als zwei Jahrzehnten sehr erfolgreich. Nun sind wir erst am dritten von acht Tagen und es warten noch eine Fülle von Entdeckungen nebst einigen Liebeserklärungen an Landschaften und Menschen.
Schloss in Neuhardenberg
Da beschreibt Autor Siegmund das „feine Viertel des Oderbruchs“ - Neuhardenberg. Hier gibt es einiges an Historie zu erzählen, in der Fürst von Hardenberg, Baumeister Karl Friedrich Schinkel und die Parkgestalter Lenné und Hermann von Pückler ihren Part spielen. Am Rande des Oderbruchs gelegen, bestaunt der Besucher heute ein denkmalgeschütztes Dorf mit Schloss, Orangerie, Landschaftspark, Dorfanger, Kavaliershäusern und Kirche. Manches kennt der Leser, aber wer kennt schon Bärwinkel, ursprünglich ein Vorwerk von Neuhardenberg. Hier baute der junge Schinkel ein Molkenhaus, einen Zweckbau, der damals einen „herrschaftlichen Salon“ besaß. Den Bau nannte er später „Milch-Basilika“ und bezeichnete es als eines seiner Meisterwerke (S.114).
Der freistehende Turm der Schinkelkirche in Letschin Der Kulturhafen in Groß Neuendorf
Aber Schinkel hat auch noch einen Auftritt im Ort Letschin, wo ein von ihm gebauter Turm steht. Eine Hauptrolle spielte im Ort der mit liebevoller Respektlosigkeit genannte „Olle Fritz“ Friedrich II. Die Bürger versteckten im Jahr 1945 ein im Jahr 1905 eingeweihtes Bronze-Denkmal, welches eigentlich eingeschmolzen werden sollte. Als die Preußen in der DDR wieder hoffähig wurden, tauchte es 35 Jahre später wieder auf, und seit 1990 steht Friedrich II. wieder auf seinem Sockel (S.122).
Denkmal Friedrich II. in Neutrebbin
Dem Denkmal des Alten Fritz in Neutrebbin aus dem Jahr 1904 erging es nicht so gut. Es wurde von 1952 tatsächlich von seinem Sockel gestürzt und verschwand. Nach der Wende wurden dann Spenden gesammelt und ein Nachguss in Auftrag gegeben und so hat auch Neutrebbin seit 1994 wieder seinen Friedrich (S. 116).
Bernd Siegmund macht auch keinen Bogen um schreckliche Orte und Daten deutscher Geschichte. Dazu zählt der Ort Seelow, wo im April 1945 eine der letzten mörderischen Schlachten des Zweiten Weltkrieges geschlagen wurde und heute eine Gedenkstätte erinnert. Ganz andere Erinnerungen verspricht der Besuch in dem Dorf Golzow. Obwohl schon 1308 erwähnt und „viel Geschichte auf dem Buckel“, wurde der Dorfname durch ein im Jahr 1961 startendes Kunstprojekt berühmt. Die Dokumentarfilmer Barbara und Wilfried Junge verfolgten den Werdegang einer Golzower Schulklasse über mehrere Jahrzehnte über die politische Wende bis zu Jahr 2007. Es entstand eine Langzeitdokumentation mit 20 Filmen und rund 45 Stunden Filmmaterial. Ein Film Museum wurde eingerichtet und seit 2014 führt die Gemeinde in ihrem Namen die Zusatz Bezeichnung „Ort der Kinder von Golzow“.
Unbedingt über das Buch zu erwähnen sind nach der Einleitung und innerhalb der acht Kapitel die praktischen Hinweise in bester Manier von guten Reiseführern. Dazu zählen die Verkehrsanbindungen (Wege ins Land, S. 25) Hinweise auf Sehenswürdigkeiten, Übernachtungen und Restaurants sowie weiterer Urlauber-Service.
Festung Küstrin - Erinnerungstafel an Leutnant Katte Bockwindmühle Wilhelmsaue
Den Schlusspunkt des Reiseführers setzt ein Deichläufer am Deichkilometer 40 in Winterzeiten, wo durch Eisbildung und Tauwetter eine Hochwassersituation drohen kann. Im Buch ist zu erfahren, dass die Oder der einzige Strom Mitteleuropas ist, der Grundeis bildet. Wenn es dann taut, können sich Eisschollen übereinander schieben, gefährliche Barrieren aufbauen. Die Oder, der wilde auch mit Deichen gebändigte Fluss, hat Schönheit und Kraft und eine wunderschöne Landschaft – das Oderbruch.
Zumeist haben die interessierten Wanderer und Naturliebhaber eine kleine Hausbibliothek daheim, um einen schnellen Zugriff auf interessante und spannend erlebbare Regionen zu haben. Hier hat unbedingt auch das Buch „Das Oderbruch entdecken“ seinen Platz.
Buch Bernd Siegmund: „Das Oderbruch entdecken. Ausflüge in eine faszinierende Region“.
be.bra Verlag, 1. Auflage 2022
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