top of page
  • Ronald Keusch

Der Fernsehturm ist umgefallen

Debüt-Roman „Materialermüdung“ von Dietrich Brüggemann





Materialermüdung Dietrich Brüggemann

Kurz vor Weihnachten letzten Jahres zerplatzte schlagartig in einem Hotel im Zentrum von Berlin ein Großaquarium mit 1500 Fischen und eine Million Liter Wasser ergoss sich in die Hotellobby und bis auf die Straße. Die mögliche Ursache dieses Debakels lautete schlicht „Materialermüdung“ und war damit ungewollt eine Werbung für einen Debüt-Roman. Er erschien mit diesem Titel wenige Monate zuvor im neuen Belletristik Verlag Edition W des Westendverlages aus Frankfurt. Der Autor ist der Filmemacher, Musiker und Autor Dietrich Brüggemann (Jahrgang 1976), der nach seinem Regiestudium an der Babelsberger Filmhochschule sich unter anderem als Drehbuchautor und Regisseur von drei preisgekrönten ARD-Tatort-Folgen bekannt machte. Doch der knapp 500 Seiten umfangreiche Roman „Materialermüdung“ handelt nicht von zerbrochenen Scheiben eines Aquariums mit hunderten toten Fischen und auch nicht nur vom Zerfall der Materie – von Radreifen bis Betonbrücken - in ganz Deutschland und weltweit. Brüggemann interessiert der Zerfall der vielen gesellschaftlichen Verhältnisse und Bindungen, die Zerstörung von Gewissheiten wie von Wunschvorstellungen. Zugleich will er damit seinen Lesern und der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten – sicher ein Hauptmotiv für viele engagierte Schriftsteller. Das gilt für George Orwell „1984“ wie für Morton Rhue „Die Welle“, für Aldous Huxley „Schöne Neue Welt“ wie für Heinrich Böll „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder Michel Houellebecq „Die Unterwerfung“ und viele mehr.

Nun ist es sicher vermessen, einen Erstlings-Roman mit Literatur-Titanen zu vergleichen. Aber in der vordergründigen kritischen Betrachtung und möglichst weiten Distanzierung zu seiner Person und seinem Buch sind Vergleiche zu prominenten Schriftstellern schon gegeben. Deutschlandweit ist Brüggemann bekannt, weil er im April 2021 unter dem Hashtag #allesdichtmachen eine Protest-Aktion mit initiierte, die die Corona-Maßnahmen der Regierung und die Berichterstattung und Kommentierung darüber in den deutschen Medien kritisierte. Insgesamt 50 Schauspieler und einige Regisseure verpackten damals ihre berechtigte Kritik in kurze ironische und satirische Videoclips. Das brachte Brüggemann damals einen nicht vorhersehbaren extremen Shitstorm ein und machte ihn für die Feuilleton-Redaktionen der Mainstream-Medien verdächtig – mehr Feind als Ehr. Aber ein Ziel der Aktion, eine umfassende Diskussion im Lande anzustoßen, musste scheitern. Da nützt es heutzutage leider wenig, wenn knapp zwei Jahre später ihre kurzen satirischen Beschreibungen und Bewertungen nahezu alle durch die unabhängigen Wissenschaftler und die Wirklichkeit bestätigt werden. Bis heute duckt sich die offizielle Politik vor einer Aufarbeitung der Maßnahmen der Corona-Pandemie weg oder verlässt das Podium mit Rücktritt wie kürzlich eine Corona-Galionsfigur, der Präsidenten des RKI Lothar Wieler.

Die Niederschrift zum Roman Materialermüdung begann im Sommer 2019 auf einer kroatischen Insel und endete im Herbst 2021 auf einer anderen kroatischen Insel, erinnert sich Autor Brüggemann. Dazwischen lagen seine Erfahrungen mit seinem Hashtag #allesdichtmachen, die er sich, wie er verlauten lässt, noch aufspart. Und er legte deshalb die Handlung des Buches ins Jahr 2019. Im Roman geht es um drei junge Leute und einer Geschichte um Liebe, Freundschaft und Familie. Die drei Freunde Moses, Maja und Jacob stehen im Mittelpunkt des Romans. Für dieses zentrale Trio, so verrät Brüggemann in einem Interview, habe er die Bauanleitung dieser Konstellation bei Harry Mulisch und Michel Houellebecq entlehnt. Die Filmarbeiten „Die Entdeckung des Himmels“ und „Elementarteilchen“ haben den gleichen Bauplan: Der Autor teilt sich auf in zwei konträre Männerfiguren, und es gibt eine Frau in der Mitte. Nun kann sich der Leser bei einem fulminanten und spannenden Roadmovie zwischen Buchdeckeln auf jede Menge Spannung und überraschende Wendungen gefasst machen.

Am Anfang der Odyssee steht der unsympathische Vater von Jacob, der die jungen Leute Maja und Jacob aus dem Ferien-Paradies seines Gartengrundstücks mit Apfelbäumen wegen eines verspeisten Apfels vertreibt; der biblisch alte Vergleich findet im Epilog seine Pointe. Der alte Herr gibt einen verschwörungstheoretischen Sokrates-Report heraus. Und er behält mit seiner ziemlich absurden Prophezeiung in seinem Report am Ende des Buches letztlich sogar Recht: Ein Experiment im Teilchenbeschleuniger Cern in der Schweiz verursacht eine weltweite Katastrophe: Die Materie zerfällt.

Das Trio der jungen Leute ist im heutigen Kulturbetrieb als Regisseur, Musiker und Komponist beschäftigt, wie übrigens auch der Autor selbst. So dominiert im Roman das Wirken einer aktivistischen avantgardistischen Theatergruppe am Deutschen Theater in Berlin. Ihr gehören Maja und Jacob an. Sie haben sich als Theaterstück das Thema Obsoleszenz - also das Altern von Produkten bzw. deren Haltbarkeit - gewählt. Doch dabei fällt auch die Gruppe auseinander. Dann gibt es weiterhin ein Verwirr-Spiel um die Identität von Moses, ihres Freundes. Nicht nur Materie, sondern auch der Stoff, der Beziehungen zusammenhält, in Familie, Liebe, Job, Freundschaften, kann ermüden und zerfallen.

Trotzdem gelingt dem Autor, dass seine vielen Geschichten, die er erzählt, nicht pessimistisch oder apokalyptisch daherkommen. Und er findet immer wieder ausreichend Gelegenheit, Land und Leuten einen Spiegel vorzuhalten. Beispielsweise, wenn Moses, eine der Hauptfiguren, seine Erlebnisse und Gedanken auf den deutschen Autobahnen wiedergibt (S. 84ff.) Oder wenn Brüggemann an vielen Stellen des Buches die schöne neue Welt der Informationstechnologie im Internet beschreibt. Da fehlt weder eine scharfzüngige Analyse noch eine ausgiebige Prise von Humor. So teilt er die Bevölkerung von Twitter grob in drei Teile ein, ungefähr wie die Ständeordnung im Mittelalter. Leute, die auch im realen leben Autorität und Reichweite haben, das waren überwiegend Journalisten und Politiker…das war der Adel. Die Geistlichkeit sah er in jenen, die unter Pseudonym mal etwas posteten und die dritte Gruppe stellt das Fußvolk, also irgendwer mit ein paar hundert oder null Followern. (S.143) An anderer Stelle lässt er Maja, eine seiner Haupt-Romanfiguren, über die unterschiedlichen Typen von Männern mit viel Witz philosophieren, die nicht allein durch ihre inneren Werte und ihre äußere Erscheinung, sondern auch durch die Einrichtung ihrer Wohnung in Kategorien einzuordnen waren (S. 166ff.) Und immer wieder taucht im Roman der rote Faden der Materialermüdung auf, wenn die Theatergruppe ihr Projekt Obsoleszenz diskutiert und fragt, ob die Menschheit selbst schon obsolet ist, hat sie ihr Verfallsdatum erreicht und geht jetzt kaputt? (S. 183) Alle diese Erscheinungen gehen einher mit Beobachtungen einer wachsenden Intoleranz im Netz, die vom Autor konkret und sachkundig beschrieben wird. Zunächst nur in einigen Ecken des Internets, unter dem vorgeschobenen Anliegen nach mehr Emanzipation und gegen Diskriminierung, entwickelt sich ein ganz merkwürdiger intoleranter Zeitgeist.

Eines der großen Anliegen von Dietrich Brüggemann, das der Autor in seinem Roman mehrfach abbildet, formulierte er in einem Gespräch zu seinem Buch mit den Nachdenkseiten: „Ich wünsche mir, dass wir auch harte Kontroversen als demokratischen Normalfall wertschätzen lernen, anstatt die Vertreter von Minderheitenmeinungen in ihrer Existenz zu bedrohen. Ich wünsche mir eine Medienlandschaft, in der eine offene Debatte stattfinden kann, nicht nur Scheingefechte innerhalb eines umgrenzten Raums. Was mit Leuten passiert, die diesen Raum verlassen, sehen wir ja andauernd. Jemand sagt im Fernsehen ein paar Dinge, die sich mit der Einschätzung vieler anderer Experten, aber auch vieler normaler Bürger decken, und wird daraufhin unterbrochen, niedergeschrien und mit einer Diffamierungskampagne überzogen, dass einem die Haare zu Berge stehen.“

Aktuelle Beispiele liefert in erschreckender Weise das Thema des Ukraine-Krieges. Hier ist zu beobachten die Ermüdung des gesunden Menschenverstandes, der dringend erfordert, den 3. Weltkrieg zwischen USA / Nato und Russland sofort zu stoppen. Während ähnlich einer Sekte besorgte junge Leute ein vor zehn Jahren geräumtes jetzt unbewohntes Dorf als Symbol einer angeblich akut eintretenden „Klima und Weltzerstörung“ verteidigen, sind die Kriegstreiber ganz unmittelbar aktuell dabei, ein nukleares Inferno zu riskieren, ja sogar heraufzubeschwören. Wenn also ein kleiner Teil der jungen Generation sich als letzte Generation bezeichnet und irgendwie apokalyptisch sein will, dann doch bitte zunächst angesichts der Gefahren eines Krieges mit Atomwaffen.

Etwa einhundert Seiten vor dem Romanende rüttelt Maja in ihrer Berliner Wohnung den schlafenden Freund an der Schulter mit dem Satz: „Der Fernsehturm ist umgefallen.“ (S.389) Die Fotocollage auf dem Buchdeckel von „Materialermüdung“ wird nun zum weiteren Romaninhalt. Keine bequeme Einschlaf-Lektüre und alle, die es auch in Scharen noch gibt, die nichts mit Instagram und Twitter anfangen können und kein Handy besitzen, sollten dieses Buch auch eher meiden.

Der Autor prägt auch ein nettes Bonmot, gerichtet an die Adresse von Verlagen und Buchhandel und Buchkäufer. „Jeder wusste, dass Mängelexemplar ein beschönigender Ausdruck für Ladenhüter war.“ (S. 235) Es spricht alles dagegen, dass dieser Debütroman von Brüggemann ein solches Schicksal erleiden muss.




Buch: Dietrich Brüggemann, Materialermüdung, Edition W, Erstausgabe 22.08.2022

Gebundenes Buch 25 EUR, als e-book 19,99 EUR.


Comments


bottom of page