top of page
  • Ronald Keusch

Wie das Propagandamodell funktioniert

Über das Buch „Die Konsensfabrik. Die politische Ökonomie der Massenmedien“ von Noam Chomsky und Edward S. Herman





Chomsky/ Herman: Die Konsensfabrik

Der Westendverlag hat ein untrügliches Gespür für ein Revival älterer Standardwerke zu brennend aktuellen Themen. Erinnert sei nur an das fast einhundert Jahre alte Buch „Lügen in Zeiten des Krieges“ aus dem Jahr 1928. Der englische Autor Arthur Ponsoby hilft dem Leser auch heute, die aktuelle Kriegspropaganda der Gegenwart über die Konflikte in der Ukraine oder im Niger zu entlarven (siehe auch die Rezension: https://www.keusch-reisezeiten.de/post/2022-07-rezensionen-luegen).

Jetzt wurde ein Klassiker aus dem Jahr 1988 über Propaganda und Desinformation erstmals in Deutsch neu aufgelegt. Sein Titel: „Die Konsensfabrik. Die politische Ökonomie der Massenmedien“, seine Autoren Noam Chomsky und Edward S. Herman, wobei sich besonders Chomsky weit über die Fachwelt der Politologen und Linguistiker hinaus einen glänzenden nahezu unangreifbaren internationalen Ruf erworben hat.

Der Zeitpunkt ist fast genial gewählt. Die Propaganda-Maschine des westlichen Systems quietscht mächtig. Ein Maßstab dafür ist die in letzter Zeit wachsende Zahl an kritischen Veröffentlichungen dazu in Artikeln und nicht zuletzt in Büchern. Nur drei seien genannt: Das Buch mit den Autoren Lutz Herden, Wolfgang Herles, Luc Jochimsen, Michael Schmidt: „Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Berichte von Beteiligten“, mit einem Vorwort von Daniela Dahn, erschienen 2023 in der edition ost sowie dazu die Rezension von Michael Meyen in manovia.news „Paradoxien der Einheit“.

Im Buch „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist am Ende. Aber ein Ende ist nicht in Sicht“ aus dem Verlag fifty-fifty legen die früheren exzellenten Fernsehmacher Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam den Finger in die Wunde der sinkenden Glaubwürdigkeit dieses Mediums. Schließlich beispielhaft auch das Buch von Birk Meinhardt „Wie ich meine Zeitung verlor“ vom Verlag Neues Berlin. Darin berichtet der Investigativ-Journalist, wie er aus den Staatsmedien, hier der Süddeutschen Zeitung, die zumeist nur noch Sprachrohr der Regierung sind, ausgebootet wurde (https://www.keusch-reisezeiten.de/post/2020-08-buch-wie-ich-meine-zeitung-verlor).

Wenn man über die heutige Medienwelt ganz knapp in nur einem einzigen Satz urteilen will, bietet sich der legendäre Ausspruch des bekannten bürgerlichen Publizisten Paul Sethe aus dem Jahr 1965 an: „Die Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“

Doch allen, die sich ein umfangreiches Bild von der Funktionsweise der Medienlandschaft machen wollen, fernab auch mancher billigen Klischees oder den Orakeln um dunkle Mächte im Hintergrund, all denen ist dieses Standardwerk mit 702 Seiten empfohlen. Es ist zwar vor 35 Jahren verfasst worden, hat aber nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die Herausgeber waren dennoch gut beraten, aktuell eine recht ausführliche Einführung von den Medienwissenschaftlern Uwe Krüger, Holger Pötzsch und Florian Zollmann voranzustellen.



Plakat, gezeigt auf der Friedensdemo in Berlin am 5. August 2023
Plakat, gezeigt auf der Friedensdemo in Berlin am 5. August 2023

Sie gehen auf die aktuelle Debatte um die Lügenpresse ein, um dann den Versuch zu unternehmen, das Propagandamodell, das von Chomsky und Herman auf mehreren hundert Seiten mit unzähligen Statistiken und Zahlen wissenschaftlich akribisch dargestellt wird, in aller Kürze mit aktuellen Bezügen wiederzugeben. Das Propagandamodell zeigt das strukturelle Bedingungsgefüge der Medienproduktion auf „und die dadurch ermöglichte direkte oder indirekte Einflussnahme bestimmter gesellschaftlicher Akteure auf die Berichterstattung. Staatliche Zensur gebe es nicht, wohl aber Selbstzensur und eine häufig unbewusste Anpassung an die Machtverhältnisse, etablierte Normen und finanzielle Zwänge“. Auf dem privatwirtschaftlichen Medienmarkt mit hoher Konzentration von Eigentum wirken dann laut Chomsky und Herman Nachrichten-Filter, mit deren Hilfe „Geld und Macht in der Lage sind, die Nachrichten herauszufiltern, die es wert sind, gedruckt zu werden“ (S. 9).

Das Propagandamodell von Chomsky und Herman entlarvt, wie die Medienmacht als Waffe gegen alles, was von den Narrativen der westlichen Eliten abweicht, eingesetzt wird, mit doppelten Standards („wertvolle“ und „wertlose“ Opfer), der Verengung des Meinungsspektrums, der Verbreitung von Fake-News als alternativlose Wahrheiten, bis zur Rechtfertigung von Militäraktionen, Kriegen und Putschen gegen demokratisch gewählte Regierungen in aller Welt. Kein Wunder, dass dieses Modell von der offiziösen Medienwissenschaft attackiert und noch öfter ignoriert wird (S. 12 ff.). Die meisten Kritiker machen es sich einfach und stellen es in die Ecke der Verschwörungstheorien. Wer das Buch mit seinen akribisch zusammengetragenen Fallbeispielen liest, wird sehr schnell merken, wer die Verschwörer sind.

Interessant für den Leser ist in der Einführung, wie das klassische Propagandamodell weitergeführt und mit neuen Fällen ergänzt wird. Dazu nennen die Autoren den zweiten Golfkrieg im Jahr 1999 – der „saubere“ Krieg mit 200.000 Toten, die Invasion und Besetzung des Irak im Jahr 2003 und der Stellvertreterkrieg in Syrien ab dem Jahr 2017. Beim Blick auf andere Länder zeigt sich, dass auch die Existenz eines starken öffentlich-rechtlichen Sektors nicht die Anwendung des Propagandamodells verhindern kann (S. 26). Und ein Resümee der Einführung allein auf 25 Seiten mit acht Seiten Anmerkungen lautet; die sozialpsychologischen Erklärungen des fernsehbekannten Philosophen Precht und des Soziologen Wetzel sind nicht ausreichend, um die politische Ökonomie der Leitmedien im Kapitalismus aufzuzeigen.


Plakate, gezeigt auf der Friedensdemo in Berlin am 5. August 2023

In einem weiteren Vorwort aus dem Erscheinungsjahr des Standardwerkes im Jahr 1988 kommen die Autoren Chomsky und Herman selbst zu Wort. Und sie belegen eindrucksvoll, dass das Propagandamodell, wie es von ihnen analysiert in den USA funktioniert, seit langem als Blaupause in anderen Ländern angewendet wird.

Nach diesen Einführungen und Vorworten ist der Leser gut vorbereitet, um die Ausführungen der Autoren zu verfolgen. Das Ziel des Propagandamodells besteht darin, „die Herrschaft der Elite über die Medien und die Marginalisierung von Vertretern abweichender Meinungen“ zu befestigen (S. 130). Ein zentraler Punkt sind dabei insgesamt fünf Filter, die das Propagandamodell charakterisieren:

  1. Größe, Eigentum und Profit der dominanten Medien-Firmen; dabei besitzen immer noch einige wenige Privatpersonen bedeutende Anteile an den Medien und bei der Besetzung von Management-Positionen gibt es eine enge Verflechtung mit Banken, Kanzleien, Parteien und Politik;

  2. Das Geschäft mit Werbung als Haupteinnahmequelle der Massenmedien; Werbekunden erwerben de facto ein Einspruchsrecht, da die Medien ohne deren Geld nicht lebensfähig sind (S. 146);

  3. Die Abhängigkeit der Medien von den Nachrichtenquellen des Staates, der großen Unternehmen sowie bezahlter „Experten“; dabei stellen auch die Medien selbst „Experten“, die nichts anderes tun, als offizielle Standpunkte nachzubeten (S. 161);

  4. Störfeuer von Machthabern gegen Kritik, die an ihnen in den Massenmedien geübt wird, ob als Beschwerden, juristische Klagen, Drohungen, bis hin zu Strafaktionen, Entlassungen oder Verleumdungen;

  5. Der Antikommunismus als nationale Religion und Kontrollmechanismus, wobei jeder, der sich gegen die Interessen der Mächtigen wandte, als „Kommunist“ abgestempelt wurde, ob er sich nur einfach für den Frieden einsetzte oder mit Korruption aufräumen und Bürgerrechte durchsetzen wollte.

Plakat, gezeigt auf der Friedensdemo in Berlin am 5. August 2023
Plakat, gezeigt auf der Friedensdemo in Berlin am 5. August 2023

Der fünfte Filter ging nach dem Ende des Kalten Krieges nahtlos über in den „neoliberalen Glauben an die Wunderwirkungen des freien Marktes“. Und heute kann man täglich in den Medien beobachten, wie sich die „Transformation“ zur neuen Religion entwickelt. Alle Stimmen, die sich kritisch mit dieser auseinandersetzen, werden totgeschwiegen, verfolgt, aus den Jobs entfernt, von Hochschulen und aus dem Staatsdienst verbannt. McCarthy lässt grüßen.

Diese fünf Filter verengen die Bandbreite der Nachrichten und schaffen den Platz für Propagandakampagnen.

Mit diesem Basiswissen ausgerüstet, lesen sich die folgenden Kapitel mit mehr Klarheit und Spannung. Jetzt werden den theoretischen Ausführungen konkrete Beispiele angefügt. Sie überraschen und ohne Übertreibung - sie erschüttern auch den Leser, der glaubt, bislang über die Weltgeschichte und die USA-Politik gut Bescheid zu wissen. In dem Kapitel „wertvolle und wertlose Opfer“ aus den 60er bis 80er Jahren, untermauert mit statistischem Material, drängen sich geradezu Parallelen zur jüngeren Geschichte auf, wie die auf dem Maidan in Kiew. Ein langes Kapitel widmet sich der Strategie, demokratische Wahlen in der dritten Welt vor allem in Nicaragua, Guatemala und El Salvador, zu delegitimieren und als bedeutungslos darzustellen. Wieder und wieder werden Einseitigkeit und Desinformation akkurat nachgewiesen und die Doppelstandards aufgedeckt.

Und schließlich nimmt einen dominierenden Platz das Thema der Indochinakriege in Vietnam, Kambodscha und Laos ein. Die Autoren schildern sehr detailliert die entscheidenden Ereignisse des Vietnamkrieges, wie den Tonkin-Zwischenfall. Der Angriff auf den Zerstörer „Medox“ vom 4. August 1964 hat überhaupt nicht stattgefunden, so beschreiben die Autoren. Aber die US-Medien haben die Vision der US-Regierung geschildert und als unhinterfragte Wahrheit akzeptiert. Es war der entscheidende Anlass, die verheerende Ausweitung des Krieges auf Nordvietnam zu beginnen (S. 260ff). Dem folgenden Blankoscheck des Kongresses folgten weitere Aggressionen in Kambodscha und Laos. „Danach führten die USA einen langen und brutalen Krieg, um ihre Ziele in Vietnam zu erreichen, wobei sie einen Großteil Indochinas nachhaltig zerstörten…Schließlich akzeptierten sie im Januar 1973 formal einen Friedensvertrag, der praktisch identisch mit dem vietnamesischen Konsens war, den sie 1964 mit Gewalt sabotiert hatten“ (S. 466).


Auf der Friedensdemo am Brandenburger Tor am 25. Februar 2023
Auf der Friedensdemo am Brandenburger Tor am 25. Februar 2023

Wer erinnert sich dabei nicht an die durch westliches Eingreifen abgebrochenen Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im März 2022. Wieviel Jahre soll es dauern und wie viele zig-tausende junge Männer müssen sterben, ehe die Verhandlungen endlich fortgesetzt werden? Auch die Medien mit ihren Journalisten laden Schuld auf sich.

Mut und Hartnäckigkeit von dem Investigativ-Journalisten Seymour Hersh sorgten zwar schon damals dafür, dass die Kriegs-Greul in dem Dorf My Lai nicht mehr vertuscht werden konnten und an die Öffentlichkeit gelangten. Aber einige wenige Wahrheiten beweisen keinesfalls die gesamte Richtigkeit der Berichterstattung. Jede US-Einheit in Südvietnam hatte ihr eigenes My Lai und setzte bewusst ihre Feuerkraft auf dicht besiedelte Gebiete ein, so heißt es im Buch. Doch diese Verbrechen an der Zivilbevölkerung wurden ignoriert oder mit subtileren Formen verdeckt. Der Krieg befand sich in einer blutigen Sackgasse. Die Medien sahen den Krieg vom Standpunkt der offiziellen Doktrin der Regierung. Die Opferzahlen wurden heruntergespielt, die Medien sind nie von der offiziellen Interpretation des Kriegs als Kampf zur Verteidigung der Demokratie gegen die Aggression abgewichen. Und es gab damals keinerlei moralische Schuld (S. 545). Die Buchautoren sind empört und hoffentlich viele Leser heute auch. An was erinnert den Leser diese Situation heute?

Killing Fields bei Choeung Ek in Kambodscha
Dem Terror der Roten Khmer fielen 2 Millionen Menschen zum Opfer.
Killing Fields bei Choeung Ek in Kambodscha

Der Vietnamkrieg fand eine mörderische Ausweitung nach Laos und Kambodscha, damals für viele Menschen im entfernten Europa und Deutschland kaum bekannt. Demensprechend ist der von den USA geführte Krieg in Vietnam wie in Laos und Kambodscha eines der größten Kriegsverbrechen in der modernen Geschichte (S. 512). Auch hier hat das Propagandamodell mit Desinformation und Verschweigen seine Wirkung entfaltet. Eine besonders schäbige Rolle spielte dabei der Umgang der Propaganda mit Pol Pot und den Roten Khmer. Hier gilt der Satz unbestritten: Nicht nur aus der Geschichte, sondern auch aus der Propaganda muss die Menschheit lernen, um zu überleben. Das große Verdienst der Autoren ist es, die Doppelmoral sichtbar zu machen, die den schönen Worten von freien Wahlen, einer freien Medien-Landschaft und staatlicher Repressionen gegen Meinungsfreiheit zu Grunde liegen.

Zum Abschluss dieses Enthüllungsbuches mit seinen Fallstudien zur Medien-Berichterstattung liefern die Herausgeber für diese anspruchsvolle Lektüre auf einem halben Dutzend Seiten ein Literaturbrevier, aufgestellt von Michael Schiffmann (S. 693ff). Hier werden zu dem im Propagandamodell behandelten Themenkomplexen vor allem zu Mittelamerika und Indochina Bücher von international hochkarätigen Autoren empfohlen. Zu ihnen zählt auch der bekannteste deutsche Berichterstatter über Indochina und generell ferne Länder Peter Scholl-Latour. Genannt wird sein nach dem Sturz des Pol Pot Regimes 1979 erschienenes Buch „Tod im Reisfeld“. Es lohnt, auch andere Bücher des Grandseigneurs der Auslandspublizistik Peter-Scholl-Latour wieder nachzulesen. Dazu zählt unbedingt aus dem Jahr 2006 „Russland im Zangengriff“ zu heutigem brandgefährlichem Thema des Krieges in der Ukraine. Da steht schon fernab des westlichen Propagandamodells fast alles zum Verstehen dieses Konfliktes.


 

Noam Chomsky und Edward S. Herman; Die Konsensfabrik: Die politische Ökonomie der Massenmedien; Westend Verlag; Erscheinungsdatum: 4.September 2023

bottom of page