Über das Buch „Merkelismus - Die hohe Kunst der flachen Politik“ von Martin Heipertz
Der Super-GAU – der größte anzunehmende Unfall – für die politische Prominenz und den gesellschaftlichen Hochadel tritt wohl dann ein, wenn ein hochrangiger Insider wie auch eine fachlich international anerkannte Persönlichkeit zu plaudern beginnt. Verzichtet dieser Insider dann auch noch auf vordergründige Polemik, sondern zeigt sachlich Probleme auf und entwickelt sogar konstruktive Lösungen, dann wird die Angelegenheit dramatisch und kann nicht so en passant durch willfährige Medien weggewischt werden.
Diesen Unfall erleidet gerade die „erfolgreichste“ deutsche Bundeskanzlerin aller Zeiten Angela Merkel. Nach 16 Jahren Regierungszeit schied sie mit großem Pomp aus dem Amt. Ungeachtet dessen, dass nicht wenige ihrer Untertanen ihren Abgang mit dem Ausruf „endlich“ begleiteten, begann für Merkel die Zeit, an ihrem Denkmal zu bauen. Gleichzeitig wollte sie aus dem Backstage, quasi hinter den Kulissen des politischen Theaters, den Akteuren auf der Bühne auch weiterhin ihre Stichworte geben. So wie es sich gehört für eine Souffleuse oder besser für eine Strippenzieherin im politischen Marionetten-Theater.
Ein wenig in die Quere kommt Merkel bei dieser Beschäftigung nun Dr. Martin Heipertz, der Philosophie, Politik, Wirtschaft und Theologie in Oxford, Paris und Köln studierte. Er veröffentlichte Ende November das Buch „Merkelismus. Die hohe Kunst der flachen Politik“.
„Sein Berufsweg führte von der Europäischen Zentralbank über das Kosovo und die Europäische Investitionsbank in den Leitungsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Dort wurde er 2010 stellvertretender Büroleiter von Wolfgang Schäuble, 2012 persönlicher Referent des Finanzstaatssekretärs und 2014 Referatsleiter für Grundsatzfragen der europäischen Politik.“ So informiert der Verlag seines Buches, der Westend Verlag, über den Autor.
Der Zeitpunkt der Herausgabe dieser 272 Seiten langen Analyse der Regierungspolitik von Angela Merkel ist von Autor und Verlag klug gewählt. Denn zur gleichen Zeit, sozusagen parallel, erscheint das Buch „Freiheit“ von Angela Merkel bei Kiepenheuer & Witsch, unzweifelhaft ein weiterer Baustein für ihr Denkmal. Demgegenüber weist Martin Heipertz in seinem Buch als Zeitzeuge nach: Merkels Entscheidungen beim Einstieg in die Euro-Rettungspolitik hatten mit „Freiheit“ wahrlich nichts gemein. Sie entstanden unter dem überwältigenden Druck der Finanzmärkte. Dabei folgte Merkel allein der Maxime, das jeweils Allernötigste im allerspätesten Moment zu tun, um die Finanzmärkte zu beruhigen, ohne das Wahlvolk auch nur ein Quentchen mehr zu beunruhigen als nötig. Und dieser Merkelismus, der das „Durchwurschteln“ zur Regierungsform machte, bedeutet in der Endkonsequenz nicht etwa „Freiheit“, sondern vor allem das konkrete Aushöhlen von Demokratie.“
Wer nun von Heipertz‘ Buch „Merkelismus“ eine Generalabrechnung mit der Politik von Angela Merkel erwartet, muss enttäuscht werden. Der Autor konzentriert sich vorrangig auf die Zeitspanne der Eurokrise um das Jahr 2010 und die vorgebliche Alternativlosigkeit der politischen und finanziellen Entscheidungen in dieser Zeit. Aber gerade darin liegt auch der große Vorzug dieses Buches. In der Eurokrise brachte die EZB mit Zinssenkungen bis unter null und dem Ankauf von immer mehr Staatsanleihen mit schweigender Billigung der Regierungen unter Angela Merkel die Währung ins Rutschen. Und das brachte Deutschlands wirtschaftlichen Abstieg in Gang – und dieser ist, wie das Buch nachweist, selbstverschuldet und eben nicht alternativlos.
Der Autor entwickelt seine Analysen aus der Perspektive seiner Tätigkeit im Leitungsstab des deutschen Bundesfinanzministeriums. Er ist ein Zeitzeuge und seinem Buch sind drei Seiten Literatur und neun Seiten Anmerkungen mit Quellen-Angaben beigefügt. Da einige zentrale Elemente seiner Darstellung durch Texte des Erinnerungsbuches von Wolfgang Schäuble belegt sind, hofft der Autor, dass er nicht gegen die Verschwiegenheitspflicht als Beamter verstoßen hat (S. 24). Und er gibt auch die Entwarnung, dass die Lektüre „kein Expertenwissen voraussetzt“ (S. 25). Doch um etwas über die Zusammenhänge der Gemeinschaftswährung des Euro und die europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu erfahren, darf niemand einen leichten Lesestoff erwarten.
In dem Buch wird ausführlich der Weg in die Krise und die Zuspitzung im Jahr 2010 durch überbordende Staatsverschuldung vor allem am Beispiel von Griechenland dargestellt. Dabei entsteht das Phänomen der Merkelschen Politik des „Durchwurschteln“: Einer Konsenspolitik, die wenig Wert auf die Richtigkeit von Entscheidungen legt und die es vermeidet, klare Werte und Ziele zu formulieren. Das könne manchmal sogar richtig sein, räumt der Autor ein, aber auch manchmal unangemessen und sogar höchst schädlich (S. 42-45). Dieses „Durchwurschteln“ höhlt zudem die Demokratie aus und hat Langzeitfolgen, wie gegenwärtig zu erleben ist.
Unter Angela Merkel wurde das TINA-Prinzip („There is no Alternative“) Regierungsdoktrin. Dabei traf sie jedoch – so heißt es im Begleittext zum Buch – „grundsätzliche Entscheidungen oder auch Nicht-Entscheidungen in ihrer Letztverantwortung als Regierungschefin, die in Wahrheit alles andere als alternativlos waren: Banken- und Finanzkrise, Ausstieg aus der Kernenergie, Abschaffung der Wehrpflicht und Demontage der Bundeswehr, Griechenlandpleite und Euro-Krise, schleichendes Bildungsdesaster, mangelnde Krisenvorsorge wie bei der Flutkatastrophe im Ahrtal, Brexit, Ukraine und schließlich die Mutter aller Krisen: Migration, Grenzschutz und innere Sicherheit.“
Der Autor lässt eine ganze Reihe von Experten und Politikern zu Wort kommen, darunter auch Sigmar Gabriel, damals Chef der SPD, der größten Oppositionspartei, der auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2010 direkt Kanzlerin Merkel angriff: „Frau Merkel hat die Deutschen belogen und hinters Licht geführt. Noch vor wenigen Wochen hat sie in Brüssel die eiserne Kanzlerin gespielt und so getan, als ob sie die deutschen Steuerzahler schützen will. Angela Merkel wusste in Wahrheit schon damals, dass Deutschland gar nicht anders kann, als Griechenland zu helfen und so den Euroraum zu stabilisieren“ (S. 97/98).
Und der Autor kritisierte auch ein weiteres Phänomen der Ära Merkel. „Die Politik wurde zunehmend von der Kommunikation bestimmt und nicht umgekehrt. Die Stabschefs der Ministerien in Berlin wie auch der Kabinette in Brüssel sind inzwischen keine ehemaligen Berufsbeamten, sondern Leute, die direkt aus Pressestellen oder dem Journalismus kommen“ (S. 116).
Rückblickend auf das Jahr 2010 zitiert Autor Heipertz aus seinem Tagebuch und beklagt: „Wir haben den Einsatz ins Unermessliche gesteigert, um die Währungsunion und damit das europäische Projekt zu retten. Dabei haben wir alle Prinzipien über Bord geworfen, die uns einst lieb und teuer waren – vor allem im Bereich der Währungspolitik und der nationalen Eigenverantwortung“ (S.144/145).
Die Brisanz der sehr diffizilen Arbeit des Autors zeigt sich auch in der detaillierten Beschreibung des Widerstandes gegen die Euro-Rettungspolitik und wie dieser durch Eilgesetzverfahren und unter bewusster Missachtung des Willens des Volkes umgangen wurde. „Laut Meinungsumfragen lehnten 86 Prozent der Deutschen das Rettungspaket ab, was zahlenmäßig dem Widerstand gegen die Einführung der gemeinsamen Währung zwölf Jahre zuvor entsprach und ihn sogar noch übertraf. Demokratie kann offensichtlich bedeuten, dass der Wille des Volkes in wichtigen Fällen nicht beachtet wird“ (S. 105). Das Volk stimmte dann mit den Füßen ab und die CDU verlor im Jahr 2010 die Wahl in Nordrhein-Westfalen krachend mit einem Minus von mehr als 10 Prozent.
Kurze Zeit später, am 22. Mai 2010, wurde das Europäische Finanzstabilisierungsgesetz – ähnlich wie zuvor schon das Griechische Bürgschaftsgesetz – in aller Eile durch das Parlament gepeitscht, wobei das Parlament vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Horst Köhler unterschrieb als Bundespräsident noch am selben Tag, was einige Parlamentarier wie Peter Gauweiler von der CDU veranlasste, nun noch lauter zu fragen, ob denn die Regierung Einfluss auf den Bundespräsidenten genommen hat (S 156). Horst Köhler trat eine Woche später zurück. Andere konservative Funktionsträger in der CDU wie Roland Koch folgten diesem Beispiel, Christian Wulff wurde mit dem Amt des Bundespräsidenten politisch neutralisiert, Friedrich Merz hatte sich schon vorher verabschiedet, Finanzminister Wolfgang Schäuble war zu krank und wurde dann durch den Merkel-Getreuen Thomas de Maizière ersetzt. Merkel konnte für das kommende Jahrzehnt praktisch allein durchregieren, keiner ihrer politischen Konkurrenten hatte überlebt. Und ein direktes Ergebnis des Protestes gegen den Linksruck der CDU unter Merkel war im Februar 2013 auch die Gründung der Partei AfD, die das Merkelsche TINA-Narrativ („There is no Alternative“) sogar in ihrem Namen aufgriff.
Der Autor findet in seinem Buch auch die Gelegenheit, dem Leser einige seiner persönlichen Eindrücke von Angela Merkel zu schildern. Dazu zählt drei Jahre nach dem Euro-Krisenjahr 2010 der 22. September 2013, der Abend der Bundestagswahl im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin. Es ist der Abend des großen Wahlsieges der CDU mit 41,5 Prozent und auf der Bühne standen die Granden der Partei. Als CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe eine kleine Deutschland-Flagge schwenkte, erstarrte die Miene von Angela Merkel, so erinnert sich Autor Heipertz. „Mit einer Gebärde, die ich als verächtlich empfand, nahm sie ihm das Schwarz-Rot-Gold ab wie eine genervte Mutter ihrem Kind einen Lolli und entsorgte es von der Bühne. Ich konnte dies aus der Nähe beobachten und war befremdet: In keinem anderen Land wäre eine solche Szene vorstellbar gewesen“ (S. 158/159).
Das Buch „Freiheit“ von Angela Merkel wird sicherlich die Bestsellerlisten von Spiegel und Co. im Nu erobern. Allein die CDU wird sicherlich einige Tonnen dieser Bücher für den Wahlkampf im Jahr 2025 bestellen wollen. Möglicherweise hat erst dieser von Angela Merkel gewählte Titel „Freiheit“ den Autor Heipertz dazu provoziert, sich mit seiner Analyse des Merkelismus zu Wort zu melden. Und vielleicht macht sein Beispiel Schule und es melden sich noch weitere Zeitzeugen mit Wahrheiten, die Licht in das Dunkel der Machtmaschine von Merkel und ihrer Nachfolger bringen.
Martin Heipertz: „Merkelismus. Die hohe Kunst der flachen Politik“
272 Seiten, Westend Verlag
Erschienen am 25. November 2024
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