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Ronald Keusch

Die Wahrheit über den Donbass

Zu dem neuen Buch von Patrik Baab über die Ukraine „Auf beiden Seiten der Front“





Patrik Baab: Auf beiden Seiten der Front

Vor einem Jahr hat Patrik Baab ein Buch über das „Recherchieren“ vorgelegt. Der langjährige erfolgreiche Fernsehjournalist beim NDR und später Lehrbeauftragter an der Uni in Kiel für die Ausbildung von Journalisten gehört zu den Vorbildern, die nicht nur theoretisch die Kunst der Recherche vom Journalismus beschreiben und den Nachwuchs dazu ermutigen und befähigen wollen. https://www.keusch-reisezeiten.de/post/2022-02-kolumne-recherchieren

Baab will das Recherchieren auch vorleben wie schon in seiner Korrespondenten-Laufbahn bei der ARD. In diesen Tagen wird der deutschen Öffentlichkeit sein neues Buch präsentiert mit dem Titel „Auf beiden Seiten der Front – meine Reise in die Ukraine“ aus dem Fifty-fifty Verlag Frankfurt/Main.


Ein aussagekräftiges Lagebild

Im Vorwort schildert Baab den Anstoß zu dieser Reise in die Ukraine. Ein befreundeter Historiker hatte ihm „vor Jahren in London den Floh mit Sándor Radós ‚Führer durch die Sowjetunion‘ von 1928 ins Ohr gesetzt“. Beim Blättern in der alten Schwarte kam dann die Idee, auf seinen Spuren durch die Ukraine zu reisen. Und Baab bekennt, dass er damals sich nicht hatte träumen lassen, „im Herzen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges und am Rand eines atomaren Desasters zu landen.“ So gibt dieses Reisebuch mit seinen Recherchen über das Kriegselend vor Ort und mit einer Vielzahl von Quellen der internationalen Presse ein aussagekräftiges Lagebild. Und Baab unternimmt mit seinen Texten zugleich auch eine Bildungsreise in den gegenwärtigen deutschen Journalismus. „Denn es waren große Teile der Medien, die mit einer Mischung aus Hurra-Patriotismus und Halbwahrheiten jene Kriegshysterie herbeigeschrieben haben, die den nüchternen Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine und seine Ursachen vernebelt.“ (S. 9/10)


Eingesperrt im Käfig mit Metallgittern

Der Autor unterteilt seine Reise-Recherche durch die Ukraine in vier Kapitel analog der vier Himmelsrichtungen. Schon mit dem Beginn seiner Fahrt im Herbst 2022 ostwärts mit dem Auto über Kaliningrad, mit dem Flugzeug nach Moskau, mit dem Zug nach Rostow am Don zeigt sich der dramatische Charakter dieser Reise in den Krieg. Das wird an vielen Stellen des Buches deutlich, beispielsweise, wie Baab aus seinem Hotelzimmer in Donezk beobachtet, wie ganz in der Nähe eine Artillerie-Granate in ein Wohnhaus einschlägt. Ein gefährlicher Höhepunkt ist zweifellos das Erlebnis am Grenzübergang Tschonhar am Fuß der Krim. Ein Sandweg führt durchs Niemandsland zwischen dem russisch besetzten Oblast Cherson in der Ukraine und den Sywasch-Sümpfen auf der Krim zum Kontrollpunkt der Russischen Föderation. Hier haben Berkut-Milizen das Kommando. Sie nehmen Baab und seinen Begleiter trotz Pass und weiterer Papiere fest und sperren beide in einen Käfig, einen acht mal zehn Meter großer Verschlag mit Eisengittern. „Beim ‚Blick in den Himmel über der Krim sehen wir durch Metallstäbe. Wir müssen stehen, dürfen nicht reden. Es gibt kein Wasser, keine Gelegenheit, die Notdurft zu verrichten. Nur stehen und warten. Warten und den Mund halten. Warten auf das Verhör.“ Es ist der 28. September 2022 (S. 215 ff.)


Recherche mit einer Fülle von Quellen

Bei der Schilderung dieser Situation im Käfig, findet der Autor auch genügend Platz auf den Seiten, um detailliert über den Anschlag auf die Brücke zur Krim über die Straße von Kertsch zu berichten. Englische Quellen plaudern freimütig von dem Konzept von Hugh Ward für den britischen Geheimdienst, das eine Täuschungsaktion mit einem in Georgien mit Sprengstoff beladenen See-Container vorsieht, der dann auf eine Irrfahrt durch Bulgarien, Georgien, Armenien, Russland, wieder zurück nach Georgien geschickt und dabei mehrfach umetikettiert wird, um dann schließlich über Nordossetien wieder nach Russland zurück und in Richtung Krim dirigiert zu werden. Während in der Zwischenzeit tatsächlich Kampfschwimmer und Unterwasserdrohnen eingesetzt wurden, um 450 Kilogramm Sprengstoff an den Brückenpfeilern anzubringen (S.222). Der Presse wird später nicht auffallen, dass mit einer Sprengladung auf einem überfahrenden LKW eine so massive Brücke nicht zum Einsturz gebracht werden kann.

Hier wie in vielen anderen Kapiteln zeigt sich ein großer Vorzug dieses Buches. Patrik Baab gehört zu den wenigen Journalisten, die die Ergebnisse ihrer Recherche mit einer Fülle von deutschen und internationalen Quellen untermauern. Das führte beim Verlag zu der eher seltenen Lösung, dass die insgesamt über 600 Quellenangaben auf insgesamt 63 Buchseiten (!) nicht zwischen die Klappdeckel des Buches, sondern unter Anmerkungen im Netz aufgelistet sind.


Willkommen im NATO-Land

Im Kapitel „Westwärts: Vor dem Angriff“ berichtet Baab über Lwiw unter der Überschrift: Willkommen im NATO-Land. Und er erzählt hier die komplette Geschichte. Die begann nach Ende des 2. Weltkrieges und Beginn des kalten Krieges im Jahr 1948, als die CIA Agenten- und Spionagegruppen bildete und in die Ukraine als Teil der Sowjetunion einschleuste. Es ging schon damals darum, mit verdeckten Operationen Osteuropa von der Sowjetunion „zu befreien“. (S. 84 ff.) Der US-Geheimdienst arbeitete damals mit Mykola Lebed und der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) zusammen. Lebed war die rechte Hand des ukrainischen Faschistenführers Stepan Bandera und setzte den Kampf für eine unabhängige Ukraine an der Seite der CIA fort (S. 88).

Auch der Putsch im Jahr 2014 erhält einen angemessenen Platz im Buch mit vielen Berichten von Augenzeugen. „Der Volksaufstand war eine perfekt inszenierte Show“. Es gab Tausende von NGOs, finanziert von ukrainischen Oligarchen, George Soros, verschiedensten US-Funds und der EU, die die Demonstranten auf dem Maidan organisierten und bezahlten. Victoria Nuland, damals Abteilungsleiterin im US-Außenministerium, gab 5 Milliarden US-Dollar zu, die EU zahlte fast 500 Millionen Euro für sogenannte „Front-Gruppen“ in der Ukraine, baltische und polnische Diplomaten verteilten Bargeld an die Organisatoren der Proteste (S. 150ff.). Und schließlich wurde auch das Maidan-Massaker am 20. Februar 2014 von NATO-Kräften geplant und organisiert. Die Ukraine war damit de facto zu einem NATO-Partner geworden, ohne dass dies auf dem Papier offiziell gemacht wurde. Parallel dazu wurde die Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine immer ärmer, gemessen am Bruttosozialprodukt pro Person ist die Ukraine das ärmste Land Europas, noch hinter Moldau und Albanien. Die Zahl der Bevölkerung schrumpfte von 52 Millionen 1992 auf 39 Millionen im Jahr 2022.


Mariupol – ein einziges Kriegsverbrechen

Im Laufe seiner Recherche verlässt den Autor auch der nüchterne Blick und ihn übermannt die Empörung und Wut über die Scheinheiligkeit der Propaganda des Wertewestens. Wenn er beispielsweise über Mariupol berichtet. „Der Krieg ist ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung“ (S. 191ff). Die Zivilbevölkerung wurde zum lebenden Schutzschild der Asow-Milizionäre. „Das ist Faschismus, offener Faschismus“, erregt sich ein Bewohner vor einem zerschossenen Wohnblock. Das Asow-Regiment wurde 2014 gegründet, rekrutiert weltweit Rechtsextremisten als Kämpfer und setzt sich für eine reinrassige Ukraine ein. „Unbestritten ist das Regiment ultranationalistisch, gewalttätig und antisemitisch. Es knüpft in seiner Symbolik an die SS an – sein Abzeichen ist die Wolfsangel, die auch Symbol der 2. SS-Panzerdivision ‚Das Reich‘ war“ (S.193).

Die Zahl der Ermordeten in Mariupol wird auf 57.000 geschätzt, mehr als ein Zehntel der Vorkriegsbevölkerung. „Die halbverhungerten, verdreckten und verstörten Menschen in den Kellern wollen nur noch, dass es aufhört. Mariupol – ein einziges Kriegsverbrechen“. Der recherchierende Journalist im Kriegsgebiet wird zornig, wenn er solche Sätze hört von Baerbock und Co: „Unsere Waffen retten Leben“ und konstatiert: „Wie betäubt von solchen Lügen schauen die Menschen in den nuklearen Abgrund. Dabei vergessen sie, dass es um Absatzmärkte, Rohstoffe und Profite geht. … Es ist die Politik der blutigen Hände in den Diensten der Macht und des Profits“ (S. 200). Und er zitiert den US-Autor John Mearsheimer aus dessen Text „Tödlicher Mangel an Realismus“: „Die Fortsetzung der in Deutschland von hochmoralischen, aber entweder verantwortungslosen oder strunzdummen Politikern wie Annalena Baerbock, Anton Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann lautstark vertretenen Politik ist russisches Roulette mit einer unbekannten Zahl von Kugeln in einem Revolver mit unbekannt großer Trommel“ (S. 213).


Die Schicksale von Menschen im Krieg

Das Buch hätte meines Erachtens noch mehr Aussagekraft gewonnen, wenn sich der Autor bei der Darstellung der Situation rund um die Ukraine bei der Zahl von historischen wie aktuellen Fakten mehr Zurückhaltung auferlegt hätte, was ihm sichtlich schwerfiel. Doch dann hätte es noch mehr Platz gegeben, um Begegnungen mit Menschen und ihre Schicksale zu dokumentieren bzw. journalistisch aufzuarbeiten. Aber scheinbar waren für ihn vor allem die recherchierten Zahlen so explosiv und überzeugend, dass er nicht darauf verzichten wollte und konnte. Schon allein, um die konkreten Auswirkungen der Politik der Oligarchen in der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion der teilweise abstrusen Propaganda des „Wertewestens“ gegenüberzustellen. Der Meister dieser verkommenen Propaganda kommt dabei wieder einmal aus Deutschlands Redaktionsstuben.


Die Wahrheit darf nicht in deutsche Wohnzimmer

Am Schluss seines Ukraine-Buches wird Baab gezwungen, noch ein Sittenbild des selbsternannten Qualitätsjournalismus und der akademischen Leitkultur in Deutschland aufzuzeigen. Während der Autor im Donbass versucht, Milizen, Scharfschützen, Artillerie-Granaten und Minen zu entgehen, „blasen Sitzredakteure und Schreibtischtäter zum publizistischen Angriff.“ Die Anklage, Baab sei Wahlbeobachter bei Putins Scheinreferenden gewesen, ein Apologet Moskaus, ein Journalist auf Abwegen. Die Uni Kiel kündigt seine Lehraufträge und fällt auf Falschmeldungen herein. Eine ganz unrühmliche Rolle spielt dabei die Plattform T-Online mit einer ganzen Reihe von Fake-News. Baab nahm an zwei Pressekonferenzen in Luhansk und Donezk teil, nichts Ungewöhnliches von Reportern in Kriegsgebieten. Die Reise-Recherche wurde von Baab selbst geplant und finanziert und er war kein Wahlbeobachter.

Zum Begriff des Scheinreferendums sagt der Autor: Zwar entspreche das Referendum nicht den Anforderungen einer freien und gleichen Wahl, aber die Ergebnisse bilden die Stimmung der Bevölkerung ab. Warum das so ist, hat er in seinem Buch ausführlich beschrieben.


Zensoren mit Suppenteller-Horizont

Patrik Baab findet starke und klare Worte über die von Presseorganen gegen ihn organisierten Denunziationskampagnen und über die Angriffe leitender Universitätsangehöriger auf die Pressefreiheit, denen er antidemokratisches Denken bescheinigt. Es machen sich Intellektuelle „zum Treiber des antidemokratischen Denkens. Sie werden zu politisch-ideologischen Akteuren im Prozess der Meinungslenkung und Gesinnungskontrolle und damit zum selbsternannten Zensor mit dem Ziel, den öffentlichen Debattenraum auf den staatlich gewünschten Bereich zu verengen, ja auf den Suppenteller-Horizont der eigenen Krämerseele“ (S. 231). Doch damit nicht genug. Der Fernsehjournalist und Hochschuldozent fand heraus, dass auch die Staatsschutz-Abteilung im Bundesinnenministerium eine Akte über ihn führt. So entsteht dann wie von allein ein Zensur- und Denunziationskartell, das von US-Stiftungen und Vorfeldorganisationen der NATO gefördert wird. Und Baab erinnert auch daran: „Allein für das Pentagon arbeiten 27.000 PR-Spezialisten mit einem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar. Ihr Ziel ist es, Medien mit gezielten Nachrichten, Experten für Interviews und Footage fürs Fernsehen zu beeinflussen“ (S. 236 nach Recherchen von Daniela Dahn).

Immerhin hat das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein in seinem Urteil vom 25. April 2023 dem Angriff der Uni Kiel auf die Pressefreiheit Grenzen gesetzt und die Aufhebung des Lehrauftrages für Patrik Baab für rechtswidrig erklärt.


Veitstanz journalistischer Lohnschreiber

Zu den Resümees des Recherche-Journalisten zählt, dass Propaganda besonders gut funktioniert, wenn die Menschen selbst in Unkenntnis gehalten werden. Und er listet noch einmal wesentliche historische Fakten auf, die im Propaganda-Narrativ ausgeblendet oder in den Hintergrund gedrängt werden, wie die NATO-Osterweiterung bis an die russische Grenzen trotz anderslautender Zusagen, der Maidan-Putsch und seine Drahtzieher um Victoria Nuland, das neonazistische Asow-Bataillon, die Selbstbereicherung von Selenskyj, Gesetze zur Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Ukraine und dem Verbot von Parteien oder das Blockieren unterschriftsreifer Friedensabkommen. Da erscheint Baab als ein unverwüstlicher Mahner (S. 233). Zum Resümee des Krieges zählt auch, dass neben der Ukraine und der EU auch Russland der dritte große Verlierer ist. Washington wird, so seine Prophezeiung, seine Angriffskriege fortsetzen mit 880 Milliarden Dollar für Rüstung pro Jahr – das muss sich lohnen.

Erst außerhalb des Kriegsgebietes fällt von Patrik Baab die Anspannung ab. Aber ihm wird klar, dass ihn bei seiner Rückkehr nach Deutschland ein anderer Veitstanz erwartet mit journalistischen Lohnschreibern „einer wohlorganisierten Bande von literarischen Strauchdieben, die in den böhmischen Wäldern unserer Tagespresse ihr Wesen treiben“, wie es Heinrich Heine in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ausgedrückt hat. Heute sitzt die Bande der Schreibtisch-Krieger an der Spree und der Alster.


 

Patrik Baab: Auf beiden Seiten der Front - Meine Reisen in die Ukraine

fifty-fifty Verlag

Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2023

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