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  • Claudia Keusch

Wo bleibt der rote Teppich für gesundes Obst und Gemüse?

Zwei traditionelle Messen in der Hauptstadt





Auf der FRUIT LOGISTICA 2024 in Berlin © Messe Berlin GmbH

Auf der FRUIT LOGISTICA 2024 in Berlin

In der ersten Februar-Woche fanden in Berlin zwei große Messen statt. Zum einen die Fashion Week, begleitet von medialem Getöse um die B- und C-Sternchen der Modebranche und ihre kaum alltagstauglichen Kreationen. Nein, die großen Labels wie Louis Vuitton, Gucci oder Hermes kommen nicht nach Berlin, die flanieren auf dem Roten Teppich der Big Four, der Modehauptstädte New York, Paris, London und Mailand. Dass der Fashion Week Berlin ihr Hauptsponsor verlorengegangen ist, wird als „emanzipiert“ (rbb) umgedeutet und die F.A.Z feiert, dass die inklusive Mode „sogar alte weiße Männer zu ihrem Recht kommen lässt“.

Bürgermeister Kai Wegner auf der Glööckler-Show

 © ESDES.Pictures / Bernd Elmenthaler

Bürgermeister Kai Wegner auf der Glööckler-Show

Der Senat gibt vier Millionen pro Jahr dazu, Bürgermeister Kai Wegner besucht die Show von Harald Glööckler und Franziska Giffey lädt als Senatorin für Wirtschaft zum Empfang. Ihr Staatssekretär Michael Biel redet im Kronprinzenpalais enthusiastisch davon, dass in Berlin 25.000 Menschen in der Modebranche arbeiten und fünf Milliarden Euro Umsatz generieren würden und verwechselt dabei Mode mit Bekleidung. Die Journalisten der Printmedien schwelgen in bunten Bildern und faseln von „frischem Geist“ und „Kreativität“, wo Otto-Normalverbraucher eher die Begriffe „beknackt“ und „dekadent“ finden würde.


Fashion Week zwischen Opulenz und Dekadenz © ESDES.Pictures / Bernd Elmenthaler

Fashion Week zwischen Opulenz und Dekadenz


Demgegenüber blieb die Fruit Logistica auf dem Messegelände fast unbeachtet, sowohl von den Medien als auch der Politik. Sie ist ja auch „nur“ die Leitmesse für den Fruchthandel für die ganze Welt und findet in der Fachwelt überall Beachtung. Die Messe deckt das ganze Spektrum an Obst und Gemüse sowie die gesamte Lieferkette ab, vom Saatgut, der Ernte, der Verarbeitung bis zum Transport. 2770 Aussteller und mehr als 63.000 Fachbesucher aus 140 Ländern versammelten sich an drei Tagen unter dem Funkturm. Ein wahrhaft internationales Event - der Anteil deutscher Aussteller betrug gerade mal zehn Prozent - mit angeschlossenen hochkarätig besetzten Kongressen. So wurden im „Farming Forward“ Forum digitale Technologien für die Landwirtschaft vorgestellt, wie zum Beispiel die zerstörungsfreie Obstprüfung mit Spektralfotografie, KI-Technologien zur Ertrags-, Qualitäts- und Lieferketten-Kontrolle, digitales Insektenmonitoring, eine drahtlose Plattform zur Automatisierung der Bewässerung, oder Drohnen für den Einsatz in der Landwirtschaft. Es wurden Chancen und Risiken des Anbaus unter kontrollierten Umgebungsbedingungen diskutiert, ob nun in Gewächshäusern oder in vertikalen Farmen. Im „Logistics Hub“ ging es um die internationale Kühllogistik – für Seefracht, Luftfracht, Schienenverkehr und den Straßengüterverkehr. Und im „Fresh Produce Forum“ wurden Marktzahlen und das Verbraucherverhalten unter die Lupe genommen, Lieferländer, Märkte und das Potential einzelner Produkte oder Sortimente analysiert und die neuesten Entwicklungen zu Themen wie Digitalisierung oder Verpackung präsentiert.

Immerhin, ein Politiker beehrte die Messe beim Eröffnungsrundgang, Dr. Severin Fischer, Staatssekretär für Wirtschaft, Energie und Betriebe von der Berliner Senatsverwaltung. Dabei gäbe es viele brisante Themen zwischen Landwirtschaft und Politik zu diskutieren.


Handelsbilanz Obst und Gemüse für Deutschland

Handelsbilanz Obst und Gemüse für Deutschland

Dazu braucht man nur einen Blick in die neueste Ausgabe des von der Fruit Logistica herausgegebenen European Statistics Handbook zu werfen, der wichtigsten Publikation des europäischen Frischobst- und Gemüse-Marktes. Das Handbuch ist angekündigt als „unverzichtbarer Leitfaden für Produktion und Handel mit frischem Obst und Gemüse“ und enthält unzählige Statistiken. Es ist kostenlos, für jeden zugänglich, zum Beispiel als Download über die Messe-Website, und es ist ein kleiner Offenbarungseid, der leider von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird.

Die Handelsbilanz Deutschlands für Obst und Gemüse beträgt minus 11,9 Milliarden Euro: Exporten von 1,2 Milliarden stehen Importe von 13,1 Milliarden gegenüber. Das bedeutet, dass Deutschland 0,3 Prozent seines gesamten Bruttoinlandproduktes aufwenden muss, weil es sich nicht selbst mit Obst und Gemüse ernähren kann. Das ist die mit Abstand schlechteste Handelsbilanz in ganz Europa. Und das in einer Zeit, wo alle davon reden, wie wichtig doch Obst und Gemüse für unsere Ernährung sind und die Fleischprodukte medial verdammt und finanziell mit einer Sondersteuer belegt werden sollen. Selbst die nordischen Länder mit weit ungünstigeren klimatischen Bedingungen stehen hier deutlich besser da.

Produktion an Obst und Gemüse in der EU (in Tsd Tonnen)

Noch dramatischer ist es, wenn man sich das Produktionsvolumen pro Einwohner und Jahr ansieht. Deutschland produziert gerade mal 61 Kilo pro Einwohner und Jahr an Obst und Gemüse. Dass es auch anders geht, zeigen unsere Nachbarn Belgien, Polen und die Niederlande, die in der gleichen Vegetationszone liegen. Sie produzieren zwischen 3,5 und 5 mal so viel Obst und Gemüse. Spanien und Griechenland als Spitzenreiter 7 mal so viel. Liegt das vielleicht daran, dass wir lieber unsere Agrarflächen mit Windrädern bebauen, als dafür zu sorgen, dass man die eigene Bevölkerung wenigstens halbwegs mit Obst und Gemüse ernähren kann? Und zwar mit gesunden, nachhaltig angebauten Produkten aus der Region, die unmittelbar ohne lange Transportwege zum Endverbraucher gelangen.

Es gibt viele Fragen, die die Politiker beantworten müssten. Zum Beispiel: Wie kann den enormen Kostensteigerungen insbesondere für Energie, Arbeitskräfte und Transport entgegengewirkt werden? Gegenüber dem Jahr 2015 liegt der Erzeugerpreisindex für Obst bei 155 Prozent und für Gemüse bei 156 Prozent! Es ist mehr als dringend notwendig, die Kosten-Preis-Spirale zu stoppen, damit die kleinen und mittleren Obst- und Gemüsebauern überleben können. Einfachere Kriterien zur Anstellung von kurzfristig beschäftigten Erntehelfern, die Abschaffung von unsinnigen Regelungen und Dokumentationspflichten, die Stärkung der Rechte der Erzeuger und die Unterstützung der Landwirte beim Abschluss von Ernteversicherungen gegen Extremwetterereignisse – so wie in fast allen EU-Ländern üblich – das alles sind sehr berechtigte Forderungen der Branche an die Politik. War vielleicht deswegen niemand von der Bundesregierung und den Bundesministerien bei der Fruit Logistica? Vermutlich ist es einfach bequemer, wenn man sich inmitten der Schickeria mit gestylten Models und aufgetakelten Influencern auf dem roten Teppich ablichten lässt, die stellen wenigstens keine kritischen Fragen und liefern noch schöne bunte Fotos.

Aber vielleicht sind die Akteure der Fruit Logistica auch ganz froh, dass sie nicht Zeit mit Politiker-Händeschütteln verschwenden mussten, denn eigentlich – eigentlich – sind die Forderungen der Branche schon lange bekannt. Das European Statistics Handbook zeigt seit Jahren für Deutschland die gleichen desaströsen Zahlen mit einer immer gleichen Tendenz: Abwärts. Die Politik hat sich bisher als unfähig erwiesen, überhaupt nur zuzuhören und die Probleme zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn gegenzusteuern, und damit ist sie schon längst selbst Teil des Problems geworden.

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